Tocotronic: Im Blick zurück entstehen die Dinge

Tocotronic: Pure Vernunft darf niemals siegen (L'Age D'Or / Rough Trade)

Wir schreiben das Jahr zwei nach dem zehnjährigen Bühnenjubiläum von Tocotronic. Ab heute steht das siebte Album der Wahlhamburger in den Plattenläden unseres Vertrauens. Neu im festgezurrten Soundgepäck ist die zweite Gitarre im Dauereinsatz. Der auf Tocotronic-Tour als Synthesizer-Rettung bekannte und in einem Tomte-Song erwähnte US-Amerikaner Rick McPhail schippert jetzt in der Stammformation im eingespielten Vierer mit seinen drei Bandkollegen über die Rockmeere.
Als Kernbesetzung des langjährigen Trios haben Dirk von Lowtzow (Gesang und Gitarre), Jan Müller (am Bass) und Arne Zank (hinter dem Schlagzeug) in den 90ern mit Bestnoten die Hamburger Schulbank gedrückt und avancierten mit der eingeläuteten Trainingsjacken-Ära stilbewusst zum Kult. Das ambitionierte „Jugend forscht“-Garagen-Projekt von einst ist mittlerweile klanglich zwischen den Extremen sesshaft geworden. Von schrammelig gerockten Mitgrölhymnen der frühen Marke „die drei Akkorde kann ich auch“ und einem sonnigen Soundtrack voller Alltagsbanalitäten sind sie heute Nachtschalter und Ausgabestelle für lyrisch reiferes deutsches Liedgut. Das bei L'Age D'Or erscheinende Album trägt den altersweisen Titel „Pure Vernunft darf niemals siegen (Wir brauchen dringend neue Lügen)“ und enthält eine knappe Stunde musikalische Mentalhygiene in 13 Songs als limitierte Erstauflage inklusive Bonus-Material. Aufgenommen wurde es unter der Regie von Moses Schneider (u.a. Beatsteaks) in nur neun Tagen bei Mamasweed, einem Kreuzberger Kellerstudio in der Hauptstadt. Danach folgten fünf Tage experimentelles Gestalten im Hamburger Soundgarden Studio zum Einspielen weiterer Instrumente, bevor im ländlichen PUK-Studio in Dänemark Michael Illbert (Hives und Cardigans) das Finetuning einläutete. Nach „Aber hier leben, nein danke“ lassen die musikalisch umtriebigen Bandmitglieder ihre jeweiligen Solo-Projekte in Remixen oder Cover-Versionen in der zweiten Single-Auskopplung einfließen, die im März 2005 erscheint. Im Gegensatz zum letzten Studioalbum ist die Wolke der Ungewissheit seit „Tocotronic“ noch größer geworden. Auf den frühen Tag folgt jetzt die Nacht. Das Waldmotiv auf dem Cover von einst ist der mysteriösen und geheimnisvollen Dunkelheit einer schwerer zu greifenden Wirklichkeit gewichen. Bei den Vorbereitungen zur aktuellen Albumveröffentlichung wurde das damals noch unbekannte Cover (der vier geisterhaft schwebenden Gesichter vor einem dunklen Wald) durch jeden Besucher auf der bandeigenen Internetseite um Bildbereiche von 3×3 Pixeln enthüllt, bis das Motiv vollständig aufgedeckt war. Die poetische Fortsetzung des Vorgängeralbums führt „In höchsten Höhen“ und „In tiefsten Tiefen“ aus den eigenen vier Wänden hinaus in die weite Welt. Zu den Tieren nachts im Wald, zum Ozean, zu den Gestirnen und ins ferne All. Zu einer Fülle abstrakter Wegbegleiter mit Weltverbesserungswillen und viel Träumereien. Dazu ist rhythmisches Kopfwippen angesagt, Pogo-Eskapaden sind nicht erforderlich. Die protestlerische Attitüde schwingt in lyrisch angehauchten Sprechblasen mit. Sind Begründungen für den größten Wahnsinn nicht immer vernünftige? Lügen für einen guten Zweck, um das ratio-geprägte Leben besser zu erklären und erträglicher zu machen. So herrlich nah und alltagstauglich wie die jüngeren und (ja klar!) auch wilderen, seit jeher viel zitierten Toco-Titel waren, so erfrischend klar sind schnell favorisierte Liedzeilen wie „Küss mich, küss mich, bis ich nicht mehr kann“ und badewannentaugliche Intonationen von „Meine Liebe / Dein Verzi-i-i-i-icht“, „Du denkst an mich / Ich denk an di-i-i-i-ich“ oder die (zumindest so auslegbare) Legitimation für alles mögliche. Eine Hommage an das Bauchgefühl: „Pure Vernunft darf niemals siegen / Wie brauchen dringend neue Lügen / La-la-la-la-la, la-la-la-la-lah, la-la-la-la-lah-la-la“. Schluss mit dem „Was gröl ich denn jetzt mit?“-Gejammer und dem lästigen „Früher war alles besser“-Geschwätz. Wer es noch immer nicht verstanden hat, der höre an einer Stelle etwas genauer hin: „Im Blick zurück entstehen die Dinge / Im Blick nach vorn entsteht das Glück“. Also, seid glücklich. Bitte durchdrehen und den Kopf verlieren. So wie früher. Am besten live auf der anstehenden ausgiebigen Tour.