Ok, reden auch wir mitten im Hochsommer ausnahmsweise einmal vom Wetter. Denn auf dem bunten MultiKulti-Happening am Fuße des Herzbergs gibt es diesmal ein ganz besonderes Geräusch, welches die meist bunt gekleideten Besucher auf Schritt und Tritt verfolgt: das saftig-sumpfige Schmatzen des allgegenwärtigen Matsches auf den vom vielen Regen völlig durchweichten Pferdewiesen. Jedoch einmal daran gewöhnt, macht das saftige "Pfluupp" bei jedem Schritt durch die Pampe bald nicht nur den ganz jungen Hippies Spaß...
Arthur Brown
Auf dem matschigen, sacknassen Gelände werden die bäuerlichen Traktoren diesmal zum wichtigsten Fahrzeug. Mit vielen PS und Allrad ziehen und rucken sie Tag und Nacht fast alle Camperfahrzeuge und Händlerbuden durch wadenhoch aufgeweichte Fahrrinnen an ihren Platz, worauf manche Besucher geduldig bis zu acht Stunden (!) warten müssen. Doch tut das der guten Laune keinen Abbruch, und man hilft und versorgt sich gerne gegenseitig. So erhält das Festival neben dem offiziellen Motto "Make Love work" in diesem Sommer einen weiteren Spontanslogan: "Love Matsch work". Schlammbad-Sinnlichkeit der etwas anderen Art und Love & Peace pur unter den gut 11000 Anwesenden. Von diesem besonderen Flair durchtränkt, verwandelt sich die sonst grüne Landschaft unterhalb des Herzbergs auch in diesem Juli wieder in ein idyllisches Mekka aus Pils und Patschuli, Biowein und Falafel, astrologischer Notberatung, fantasievollem Kinderland, bunten Basaren, kreativen Schlammspielen - und unendlich viel Livemusik auf drei Bühnen.
Als Opener am Donnerstagabend bestens gewählt, erinnert das US-Stimmwunder Dana Fuchs mit ihren rockigen Bluessongs spontan an die wunderbar rotzige Stimme der jungen Janis Joplin und die besten Zeiten der damals wilden Beatles. Vor gut zwanzig Jahren als Doom-Metal-Band gestartet, haben Anathema inzwischen zur atmosphärischen Rock-Band "umgeschult", und das nicht nur mit den Songs ihres aktuellen Albums "Weather Systems". Mit akustischer Melancholie, gefühlvollen Arrangements und stimmungsvoller Lightshow beherrschen die Briten an diesem Abend dabei die Klaviatur der großen Emotionen perfekt. Am späteren Abend werden Hidria Spacefolk ihrem Namen voll gerecht: finnisches Folkgefiedel gewürzt mit einer Prise Progrock, Trance und Techno wabern betörend über die kühle Nachtwiese.
Neben warmen Sonnenstrahlen zwischen kühlen Schauern ist ein weiteres Highlight am Freitag sicherlich der Gig von The Tubes, jener klassischen Showband der späten 70er und 80er Jahre. Frontmann Fee Waybill hat zwar ein wenig Stimme, jedoch kaum etwas an Charme eingebüßt. Heute sind die Rocker aus San Franzisco zwar weit entfernt von ihren legendären Bühnenshows, doch ein bisschen Show darf‘s schon noch sein: so schwankt Mr. Waybill bei "Lost for Life" lustvoll auf gigantisch hohen Plateausohlen und mit futuristischem Tunten-Outfit über die Bühne. "Fuckin‘ Germany, I love you", brüllt er mit sichtlichem Spaß ins Tanzvolk vor der Bühne. Wer ihn so sieht und hört, hat sicher keine weiteren Fragen mehr.
Was macht eigentlich Gerald Bostock heutzutage? Ja richtig, jener kindliche Held aus dem legendären Konzeptalbum "Thick As A Brick" von Jethro Tull. Auf diese und andere wichtige Alltagsfragen gibt Flötenfrontmann Ian Anderson am Abend mit trolliger Mütze und näselndem Gesang ausführliche Antworten. Vielen Unkenrufen zum Trotz ist er bei seinem Gig recht gut bei Stimme. Absolut britisch unterkühlt und mit neu zusammen gewürfelter Band bekommen besonders die etwas älteren Fans fast zwei Stunden in brillanter Soundqualität genau jene Kost serviert, für die Jethro Tull bis heute gemocht werden. Neben oben erwähntem Klassiker "TAAB", noch die Fortsetzung der Story mit Songs vom neuen Album "TAAB 2", dazu in langen Versionen die gefühlvollen Balladen "Budapest" und "Aqualung" sowie das unverwüstliche "Locomotive Breath" als passende Matschdancer-Zugabe.
Passend zum Einbruch der Dunkelheit entern Tito & Tarantula mit ihrem erfolgreichen Song "After Dark" aus dem Kultfilm "From Dusk Till Down" die große Bühne. Druckvoller Gitarrenrock im Latino-Stil, garniert mit melodischen, düster-verträumten Songs sind Visitenkarten der Mexikaner um ihren Gründer, Sänger und Gitarristen Tito Larriva. Zu später Stunde fordern Amplifier aus Manchester mit epischen Songs und charismatischen Klangsphären die geneigten Hörer heraus. Mit deutlich hörbaren Einflüssen ihrer Vorbilder von Led Zeppelin über David Bowie bis hin zu Soundgarden bietet das Trio mit ausgefeilten Arrangements ein klanggewaltiges Hörerlebnis im Breitwand-Format.
Auch wenn eine ausgiebige morgendliche Himmelsdusche die Landschaft vor den Bühnen noch mal so richtig schön aufgeweicht hat, hält das Deutschlands Gitarrenlehrer No.1 Peter Bursch keinesfalls davon ab, auf der Freak Stage wieder viele gute Tipps und Kniffe für Gitarrenanfänger und Profis auf humorvolle Art zu vermitteln. Derweil spielt sich auf der Hauptbühne wohl Einmaliges ab: das Bandprojekt Strom & Wasser unter der Leitung von Organisator Heinz Ratz lädt seit Jahren teils hochkarätige Musiker aus allen möglichen Flüchtlingslagern der Republik ein, zusammen zu musizieren. Mittlerweile geben diese Musiker etliche Benefizkonzerte für eine gerechtere Flüchtlingspolitik und haben sogar jüngst eine CD produziert. Live klingt all das übrigens hochprofessionell - und es macht Spaß dazu.
Mit Caravan präsentiert sich am Abend eine Urband der Canterbury-Szene. Bei der 1968 gegründeten Band stehen mit Gitarrist Pye Hastings und Drummer Richard Coughlan noch immer zwei Gründungsmitglieder im aktuellen Line-Up. Lange Songs mit psychedelisch, jazzigem Einschlag, dazu teils witzige Texte bilden den typischen Caravan-Sound, und der klingt kein bisschen abgehangen, sondern eher wie nach einer Verjüngungskur. Zur Freude vieler Fans erklingen im warmen Abendsonnenlicht auch längere Passagen ihres bekannten Konzeptalbums "In The Land Of Grey And Pink". Ausufernden Südstaaten-Gitarrenrock serviert direkt im Anschluss Dickey Betts & Great Southern. Ziemlich mutig, bereits am Anfang des Gigs das monumentale Instrumentalstück "High Falls" in gut 18-minütiger Version zu bringen, doch es kommt phantastisch an. Später folgen Schlag auf Schlag "Jessica" und weitere alte Allman Brothers-Hits, deren Gitarrist Dickey Betts lange Zeit war. Hin und wieder liefert sich Mr. Betts an diesem Abend auch sehens- und hörenswerte Gitarrenduelle mit seinem Sohn Duane, untermalt von grandiosen Basssoli des herausragenden Pedro Arevalo. Ein großer Auftritt gekrönt vom berühmten "Ramblin Man" als Zugabe.
Langer Soundcheck und gut abgehangener Twin-Leadgitarrenrock? Richtig, das passt zu den unermüdlichen Classic-Rockern von Wishbone Ash. Ihr routiniert klingendes Set mit dem Hit "The King will come" bereits zu Beginn spielen sie diesmal ein wenig zu statisch herunter. Oder liegt es am kühlen Abendwind, dass viele im Publikum nun der Bühne den Rücken kehren, um sich den leckeren Essensbuden und Feuerschlucker-Auftritten im Freak City-Oval zuzuwenden?
Der Sonn(en)tag macht diesmal seinem Namen volle Ehre. Die Stimmung steigt, die Junghippies üben mit viel Spaß für ihre jährliche Stelzenparade, die Schlammwüste trocknet zusehends aus - und der hervorragende Solo-Gitarrenzupfer Jeff Aug lädt mit hochvirtuosem Picking auf der Freak Stage zum akustisch-heiterem Frühschoppen ein, was von vielen Besuchern gern angenommen wird. Diesmal leider ohne ihren Saxofonisten Alex von Hagke "verkrasst" im Anschluss das Panzerballett die aufgewühlte Landschaft vor der Bühne in eine kleine Tanzoase. Jazz-Metal mit derben Funkeinflüssen und jeder Menge schrägem Musikhumor ist eine wohl eher seltene Rezeptur, um erfolgreich zu sein. Dem unkonventionellen Quintett aus Bayern mit ihrem Gründer Jan Zehrfeld an der Gitarre gelingt dies jedoch scheinbar mühelos.
Allmählich biegt auch das diesjährige Festival auf die Zielgerade ein. Und wer kann die durch das ständige Gummistiefel-Schmatzen an den vier Tagen etwas müden Besucher besser nach vorne grooven, als die ekstatischen Allgäu-Trommler von Orange? Treibende Beats, fein dosierte Elektronik, pulsierendes Didgeridoo und der unvergleichliche Obertongesang Rainer von Vielens verlangen dem Tanzvolk nochmals alles ab. Oder um es mit Orange zu sagen: "Leben den Lebenden und ein Hoch auf die innerlich lebendig gebliebenen!"
Wie schon in den Jahren 2006 bis 2009 gibt es auch diesmal mit den Herzberg Blues Allstars als letzten Haupt-Act wieder ein Abschlussbonbon der Extraklasse. Den Kern bildet wie stets die Hamburg Blues Band mit Gitarrenakrobat Clem Clempson am Griffbrett. Zum 30-jährigen Bandjubiläum fällt deren Gästeliste diesmal besonders hochkarätig und üppig aus: als erste kommt die bestens gelaunte Ex-Frumpy- und Atlantis-Funkröhre Inga Rumpf an Bord. Hinzu kommt das Bluesrock-Schwergewicht Popa Chubby, dem man kaum abnimmt, dass er für seine Brachialriffs noch keinen Waffenschein benötigt. Später gesellen sich mit Woodstock-Gitarrenlegende Miller Anderson und Hammondorgel-Maestro Brian Auger zwei weitere Hockkaräter hinzu. Nach gut zwei Stunden Musik vom Feinsten mit dieser Wahnsinnstruppe packt sich im Zugabenteil ein weiteres Geschenk selber aus. Wie schon früher mit Maske und schwarzer Kutte gekleidet, entpuppt sich nach und nach daraus "The God of Hellfire" Arthur Brown. Ein grandioses Finale mit lustvollen Improvisationen und hinreißenden Soli vergeht vor der Bühne wie im Flug, und lange Standing Ovations sind der exzellenten Künstlergemeinde mit ihrer unsterblichen Musik sicher.
Das diesjährige Burg Herzberg Festival hat die Organisatoren absolut an ihre Grenzen gebracht, und man kann es ihnen nicht hoch genug anrechnen, dass das Festival dank Umsicht und Einsatz von sehr vielen Helfern bei dem Zustand des Geländes überhaupt stattfinden konnte. Müde, glücklich und guter Dinge freuen wir uns also schon jetzt auf das nächste, hoffentlich trockene Event im neuen Jahr - denn eins ist in jedem Fall klar: nach dem Festival ist vor dem Festival!