Heiter, sonnig und staubig verspricht die diesjährige Pilgerfahrt nach "FreakCity", dem ewig jungen Sommer-Mekka der alternativen Szene, zu werden. Doch wer der großen Schlammparty auf dem Burg Herzberg-Festivalgelände im letzten Jahr mühevoll getrotzt hat, weiß diese Aussichten durchaus zu schätzen. Neben warmem Sommerwetter samt buntem Mulitkulti-Miteinander macht natürlich auch die musikalische Speisekarte des größten Hippie-Events hierzulande richtig Appetit. Wie wohltuend, diesmal Stoppeln und Staub unter seinen Füßen zu spüren - statt kniehohem Matsch mit kleinen Regenseen. Sattgrün präsentiert sich dazu das Areal vor der Hauptbühne, eine große Pferdekoppel unterhalb der Burg Herzberg.
Steve Hackett
Hier eröffnet den musikalischen Reigen am Donnerstagnachmittag Brennente, das aktuelle Bandprojekt von Festival-Mitveranstalter Gunther Lorz.
Kredenzt werden experimentelle Songs mit frisch-frechen Texten, die im Ohr hängen bleiben. Ein deutliches musikalisches Ausrufezeichen setzt danach der
Wuppertaler Bluesgitarrist Henrik Freischlader mit seiner Band auf der Hauptbühne. Geradlinige, hochvirtuose Bluesläufe kombiniert
mit einer Stimme, schwarz wie der Mississippi, sind seit Jahren sein unüberhörbares Markenzeichen. Seine kernigen Bluessongs mit Tiefe laden
viele Zuhörer vor der Bühne direkt zum Mitschwingen in der warmen Abendsonne ein.
Laute Töne lässt im Anschluss das französische Percussion-Ensemble Les Tambours du Bronx erklingen. Die 17 Musiker
malträtieren Ölfässer mit Axtstielen und bringen die Hüften der Fans auf dem Rasen mit ihrem spannenden Mix aus ekstatischem
Trommeln, einer faszinierenden Choreographie und eindringlichem Gesang mächtig in Schwung. Gegen Mitternacht entern noch "Five Guys
named moe." die Bühne, deren Bandname aus einem Songtext der Rhythm’n’Blues-Ikone Louis Jordan entstanden ist.
Ihr Sound kommt dabei verspielt, mit komplexer Rhythmik zu den Zuhörern. Ausufernd, humorvoll und scheinbar improvisierend hüpfen sie
dabei von einem Genre ins andere. Perfekte klangliche Vielfalt als schier grenzenloses, kurzweiliges Abenteuer für alle Beteiligten.
Wie in den Jahren zuvor gibt es auch beim diesjährigen Festival mit dem überaus passenden Motto "Art of Peace" am Nachmittag wieder
ein internes Fußballturnier zu erleben und später die "hochtrabende" Kinderstelzenparade zu bestaunen. Nach anschließendem
Spiel mit Glocken und Trommeln sowie phantasievoller Schmink- und Malstunde im bunten Kinderland geht es ins angenehm schattige Lesezelt, wo uns
der unermüdliche "Straßen-Paganini" Klaus der Geiger im knallrotem Overall mit seinen kritischen Texten so
richtig was geigt. Doch nun wird es Zeit für ein deftiges Kontrastprogramm. Denn im warmen Sonnenlicht präsentieren am Freitagabend
Riverside auf der Hauptbühne die volle Breitseite lang jaulender Riffs. Mit druckvollem, bodenständigem Sound,
wabbernden Keyboards, sehnsuchtsschwangeren Gitarrenlinien und dem hinreißend-emotionalen Gesang von Sänger und Bassist
Mariusz Duda bietet das polnische Quartett musikalisch perfekten Seelensound mit dem genau richtig getimeten Tritt auf‘s Gaspedal.
Dichtes Gedränge vor der Bühne dann zur Festival-Primetime: Ex-Genesis-Gitarrist Steve Hackett lässt mit
seiner aktuellen Band und dem Projekt "Genesis Revisited" die Frühzeit der Kultband Genesis neu erblühen -
und das in voller Pracht! Zwar wird wegen der Helligkeit auf visuelle Einblendungen größtenteils verzichtet, doch vom ersten
Song "Watcher of the Skies" an offenbart sich die perfekte Harmonie und ausgereifte Spieltechnik der Band. Dazu brilliert der
blonde schwedische Sänger Nad Sylvan dank seinem besonderen Charisma und einer Stimme, die sehr nah an den jungen Peter Gabriel
heranreicht, diese berauschende Show. So lauschen viele Fans auf der Wiese einfach verzückt und teils mit Tränen in den
Augen einem grandiosen Stück Musikgeschichte. Songs wie "Dance on a Volcano" oder das komplexe "The Musical Box"
bis hin zum Finale mit dem passenden "Supper‘s Ready" sind ganz großes Emotionalkino mit stimmigem Sonnenuntergang
im Hintergrund. Große Dankbarkeit und frenetischer Applaus für dieses besondere Event sind am Ende die logische Folge.
Agitation Free experimentierten Ende der 1960er Jahre in der Berliner Krautrockszene visuell und musikalisch mit
illustren Musikern wie Peter Michael Hamel, Harald Großkopf Lüül Ulbrich oder Ax Genrich. Nach
zwischenzeitlicher Auflösung fanden sich einige der Musiker 1999 wieder zusammen und improvisieren seitdem meditativ-rockig
munter weiter. Unter‘m Herzberg hat dieser Sound, zumal aktuell ohne optische Untermalung, einen sehr schweren Stand, zu
gleichförmig und langatmig kommt das Ganze auf Dauer rüber.
Da stärken sich viele Besucher doch lieber mit herzhaften Speisen und erfrischenden Cocktails, die es an den vielen
Ständen in allen Varianten zu genießen gibt. Stärkung tut auch Not, denn es folgt das seit Jahren beliebte,
bekannte Nachtbonbon von Freak City: tausende Fans strömen mit nacktem Oberkörper, in Jesuslatschen oder baren
Fußes auf die Wiese vor der großen Bühne, wo die sechs Bayern von Orange mit ekstatischer Goa-Musik groß
aufspielen. Monoton sphärische Basslines, massive Schlagwerksoli, dezente Elektroniktupfer und weit entrückte
Didgeridooklänge bestimmen ihren besonderen Sound. Vom treibenden Kehlkopfgesang ihres Frontmanns Rainer von Vielen
geführt, bringt dieser gewaltig berauschende Cocktail die Landschaft schnell zum Beben und mündet vor der
Bühne in eine wilde Tanzparty bis zum frühen Morgen.
Bei perfektem Festivalwetter ist am Samstagvormittag für viele Interessenten auf der Freak Stage Gelegenheit, beim Gitarrenlehrer
der Nation Peter Bursch hilfreiche Tipps und bewährte Griffbrettkniffe aus erster Hand zu erlernen. Danach
ist noch Zeit für ein erfrischendes Bad im kühlen Nass des nur wenige Kilometer entfernten "Silbersees",
bevor Cactus auf der Main Stage ihre Visitenkarte abgeben. Ihr wild dahin fließender Soundmix zwischen
deftigem Blues und kernigem Hardrock hat dem Quintett in der Szene nicht zu Unrecht den großen Beinamen "The
American Led Zeppelin" eingebracht. Zwischendurch ist Gelegenheit für ein Erlebnis der ganz besonderen Art, denn
der immerjunge Mann mit der Trommel Bernd Witthüser gibt an einem schattigen Plätzchen mit
seinem etwas verrückten Sprechgesang wertvolle Weisheiten wie "Frag nicht woher und wohin" zum Besten.
Am frühen Abend entert die britische Combo The Levellers mit deftigem Folkgefiedel die große
Bühne. Sozialkritische Texte aus ihrer Heimat bestimmen ihre hymnenartigen Songs, die als gelungener, rhythmischer
Mix aus Rock, Punk und Folk daherkommen und die Pogo-Beine der vielen Zuhörer unmittelbar in Bewegung bringen.
Über das nachfolgende Southern Bluesrock-Flaggschiff Gov‘t Mule könnte man ganze
Seiten schreiben - oder es auch lassen. In den 20 Jahren seit ihrer Gründung ist schon zu Recht viel Gutes
über sie berichtet worden. Gitarrist Warren Haynes, der vom Rolling Stone-Magazin seit Jahren regelmäßig
zu einem der besten Gitarreros weltweit gekürt wird, und seine Mannen lassen unter‘m Herzberg dem Griffbrett
über 2,5 Stunden mit gnadenlos gutem Spiel einfach freien Lauf, - und es klingt einfach nur großartig!
Sind die sieben Briten von Crippled Black Phoenix auf Platte schon ein wahrer Ohrenschmaus, toppt die
Band das Ganze live in höchste Dimensionen. Dieser betörende Stilmix zwischen Ambient, Country, Postrock
und Psychedelic zieht zur Geisterstunde geradezu magisch in seinen Bann. Sanft dahin fließende Pianoläufe
wie "In a Lifetime" wechseln mit gefeierten Gitarrenballaden à la "Burnt Reynolds".
Am besten die Augen zu und einfach treiben lassen, denn der Sound von Crippled Black Phoenix schenkt ein perfektes,
archaisches Trancefeeling in dieser klaren Mondnacht.
Heiß, heißer, Sonntag - weit über 30 Grad zeigt das Quecksilber bereits am Mittag. Das hält
jedoch die 11-köpfige Urban Brass-Combo Moop Mama aus München nicht davon ab, in passend
roter bayrischer Sportskleidung so richtig loszublasen. Mit kompakten Songs und witzig-kritischem Sprechgesang
wie "Wenn Bienchen und Blümchen sich lieben auf den Wiesen..." erobern sie sich schnell ihr Publikum.
Einen echten Geheimtipp gibt es mit Anima Mundi aus Kuba am frühen Abend auf der Freak Stage
zu erleben. Wohlklingender Retroprog mit leicht düsterer Einfärbung serviert von einem äußerst
spielfreudigen Quintett. Die entscheidenden Klangtupfer in dieser jungen, sympathischen Band setzen besonders
Sänger Carlos Soza mit seiner melodisch-kraftvollen Stimme, Leadgitarrist Roberto Diaz mit ausufernden
Soli sowie Virgina Peraza mit ihren orchestralen Keyboardgebirgen. Die New Yorker Spin Doctors hatten 1993
ihren Durchbruch. Damals war ihre Partykracher "Two Princes" und "Little Miss Can't Be Wrong"
weltweit in aller Ohren. Doch trotz endloser Touren und Alben konnte die Band diesen Erfolg nicht lange halten.
Vor einigen Jahren rafften sich die vier Herren jedoch wieder auf und bestreiten mit ihrem neuen Silberling
"If The River Was Whiskey" nun ein würdiges bluesrock-getränktes Abschlusskonzert auf der Hauptbühne.
Zeit, Abschied zu nehmen, von dieser friedvollen, idyllischen Festivalperle, zu der sich sicher die meisten
anwesenden "Pilger" auch im nächsten Jahr wieder in die große bunte Karawane von FreakCity
einreihen werden. Doch die Zeit des Wartens wird diesmal besonders lange ausfallen: denn aufgrund des sehr
späten Ferienbeginns in einigen Ländern wird das viertägige Event künftig erst am ersten Augustwochenende stattfinden!