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Gesehen! Donaufestival 2008, Teil 2 / 30.04.-03.05.2008, Krems/Donau, Niederösterreich

Verlass die Stadt

Text: Sandra Kriebitzsch      Live-Fotos: Florian Wieser (Donaufestival)

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Wir verlassen die Stadt. Nach einer Stunde Fahrt ab Wien endet der Zug in der idyllischen Wachaulandschaft im Donautal. Durchsetzt mit Weinbergen gehört sie ob ihrer Schönheit zum UNESCO-Weltkulturerbe. Very beautiful, um mal ein Stichwort zu liefern. Denn "Angst Obsession Beauty" ist Motto des diesjährigen Donaufestivals, das auch im vierten Jahr mit einem exzellenten Line-Up zu entzücken und zu verstören weiß. Von Tabubruch und Poetik der Angst war in der Ankündigung die Rede. Und tatsächlich: mit dem Betreten des Festivalgeländes an der Kremser Messehalle wird schnell klar, dass hier nicht heimelig geschunkelt, sondern unheimlich auf die Pauke gehauen wird. Hier hat’s gekracht: Die Schrottauto-Installation "Enchanted Cars" begrüßt den Besucher mit einer Szenarie, die eine just stattgefundene Massenkarambolage vermuten lässt.

Go Team!

The Go! Team

Aber auch Schunkeln hat hier seinen Platz. Das Konzert der Wienerin Gustav mit der Trachtenkapelle Dürnstein (einer Ortschaft unweit von Krems) im von uns nicht besuchten ersten Teil des Festivals hätten wir gerne gesehen (gut, dass es youtube gibt!). Nicht zuletzt, weil sich damit ein wenig einheimischer Charme über das ansonsten weitgehend international besetzte Line-Up gelegt hätte. Für den mussten dann The Year Of  sorgen: eine Allstar-Band der österreichischen Indie-Szene, die mit vielen Instrumenten melancholisch schöne Klänge servierte. Was allerdings eher US-amerikanische Roots hatte. Lambshop und Konsorten ließen – wenn auch mit Gott – grüßen. Ebenfalls universell gaben sich die österreichischen Indie-Darlings von Naked Lunch. Die Live-Aufführung ihres Filmmusikprojekts zum Streifen "Universal Love" des befreundeten Regisseurs Thomas Woschitz hinterließ bleibenden Eindruck. Die geschickt parallel inszenierten sechs Liebesgeschichten aus sechs Ländern wussten sie gefühlvoll zu vertonen. Verglichen damit kam der Auftritt der Linzer von Fuckhead einem Tritt in die Magengrube gleich. Tätowierte Männerkörper frönten einem orgiastischen Industrial-Geballer. Stahlstadt Linz eben. So viel zum Einheimischen.

Ansonsten hatte der Veranstalter keine weiten Wege gescheut, um großartige Acts für das Festival heranzuholen. Wobei nordamerikanische Bands das Line-Up klar dominierten. Viele ließen sich in die Schublade "experimentell" und "noisig" stecken. Aber wir wissen ja: was für den einen purer Krach, ist dem anderen Musik im Ohr. Und wo die einen den "Tabubruch als moralischen Akt" witterten, suchten die anderen nach der nächsten Party. Das größtenteils junge und gar nicht so sehr nach abgefeimten Avantgarde-Spezies aussehende Publikum wollte feiern. Wobei es natürlich mal mehr, mal weniger "abging"

Höhepunkt in Punkto Party war sicher das Go! Team. Die Soul-Pop-Hip-Hüpf-Maschine rockte den Saal, bis der Arzt kam. Am Ende hatte die quirlige Sängerin/Rapperin Ninja schlichtweg keine Stimme mehr. Die Band aus Brighton hatte es so gar nicht verdient, dass doch auffallend weniger Leute anwesend waren, als an den beiden Tagen zuvor. Zugegeben: mit der Verpflichtung der inzwischen über 80-jährigen Ikone Kenneth Anger, der den ersten Abend des zweiten Festivalteils dominierte, hatte das Donaufestival einen mächtigen Coup gelandet. Volles Haus garantiert. Uraufgeführt wurde Angers neuer Film "Ich will". Eine von den Klängen Anton Bruckners untermalte Montage von historischen Hitlerjugend- und Wandervogel-Aufnahmen, die unkommentiert zusammengesetzt wurden. Eine etwas zweischneidige Konstruktion von Parallelitäten, nach Angers eigener Aussage "ironisch" durchsetzt. Wobei die Ironie sich nur schwer erschloss. Kein überschwänglicher Applaus. Aus Schwarz-Weiß wurde dann Technicolor, als Anger – braungebrannt im beigen Anzug und Turnschuhen – knallbunte Filmsequenzen mit seinen Theremin-Klängen untermalte, begleitet von einem langhaarigen Hippie an der Gitarre. Im Anschluss dann zu Gast im Rahmen der "Kenneth Anger Nacht": die Melvins mit einem feisten Rock-Set. Mit zwei Schlagzeugern - einem Setting, in dem in Krems übrigens auffallend viele Bands auftraten. Der Zusammenhang zwischen den Rockzerstücklern um King Buzzo und Herrn Anger wurde nicht ganz klar. Abgesehen womöglich vom Bassisten, der mit seinem römischen Krieger-Outfit bestens in einen Film wie "Lucifer Rising" gepasst hätte. In dem wir uns den King mit seiner nach wie vor unglaublichen Frisur und dem knöchellangen Kleid natürlich auch bestens hätten vorstellen können.

 

 

Anschließend dann die Liars, deren aktuelles Album verglichen mit den Vorgängern ausgesprochen poppig geraten sein soll. Hätte man ihm noch vor einem Jahr gesagt, dass er ein Album wie dieses aufnehmen würde, hätte er laut gelacht, wurde Angus Andrew im Vorfeld zitiert. Bei der Vorstellung von Gitarrensoli ebenso. Fügen wir noch hinzu: auch dass er sich als klassische Frontsau im Anzug ums Mikrofon windet, war tatsächlich ein ungewöhnlicher Anblick. Aber gelacht hat er nicht. Schließen wir das Thema Headliner noch ab: am zweiten Abend legten die Postrock-Könige von Tortoise ein solides Instrumental-Set (ebenfalls mit zwei Schlagzeugen) hin. Treibend wie eh und je, meisterhaft an den Instrumenten und ungeheuer lässig, vor allem beim ständigen Instrumententausch. Ebenfalls Headliner und gleichzeitig letzter Act des Festivals war das New Yorker DJ-Duo Fischerspooner, deren lauter und basslastiger Auftritt schließlich in eine Party mündete, bei der das letzte Häuflein übrig gebliebener Hartgesottener die Bühne stürmte.

Aber gehen wir zurück auf Los. Schließlich hatte das Festival auch jenseits großer Namen eine Vielzahl spannender Live-Acts zu bieten. Für einen fulminanten Auftakt hatten Die Goldenen Zitronen gemeinsam mit der u.a. aus Fassbinder-Filmen bekannten Schauspielerin Irm Hermann gesorgt. Dem Spielort Minoritenkirche angemessen, überführten die Hamburger, den Song "ICE Bertholt Brecht" auf den Lippen, in einem unheimlichen Prozessionszug ihre Gebeine auf die Bühne. Zum Thema Angst passten dann Songs wie "Ein bisschen Totschlag", "Mila" oder das Gänsehaut-Stück "Lenin" ebenfalls bestens. Frau Hermann sang teilweise mit, rezitierte zwischen den Stücken eindringlich Texte – und sorgte auch für den einen oder anderen Lacher. Vor allem die von ihr im Zugabenteil vorgetragene Zitatsammlung aus eingedeutschten H.P. Baxter-Texten (wohl recht spontan ins Programm genommen) sorgte für Heiterkeit bei Publikum und Band. Theatralisch fiel auch die Performance von Ursula Rucker zusammen mit den Österreichern von Schnee aus. Politische Spoken-Word-Poetry, die zu überzeugen wusste.

Freakige Noise-Acts wie Aids Wolf, Health oder These Are Powers beeindruckten dann weniger mit Worten als mit furchterregendem Krach, in dem man besser nicht nach klaren Songstrukturen suchen sollte. Für verstörende Musik mit merkwürdiger Struktur ist, wenn auch auf andere Art, Jamie Stewart mit seinem Projekt Xiu Xiu bekannt. Äußerst pathetisch trug er seine Hymnen vor und spielte dazu noch wahlweise Gitarre oder Snaredrum. Die Band bediente ihre Instrumente mit filigranem Schneid, der treffsichere Stöße durch Mark und Bein zu versetzen verstand. Ganz groß. Im Jonglieren mit Worten und Musik versuchten sich auch Vedette. Düstere Elektrobeats begleiteten den "Gesang" des Frontmanns, der sich darin gefiel, seinen Körper lasziv ums Mikrofon zu winden. Da waren die Foto-Projektionen im Hintergrund fast unterhaltsamer. Die Collagen aus mehreren übereinander gelegten Fotografien hatten ihren Reiz, vor allem als die Dateinamen der Bilder (ungewollt) eingeblendet wurden. Da gab es dann Lustiges à la "kebab salad on prenzlauer berg normality.jpg" zu lesen.

Eine unglaublich gute Performance mit spitzenmäßigen Video-Projektionen legte Planningtorock aka Janine Rostron hin. Glamourös war das, wie die blonde Dame im weißen Gewand zu toller Elektronika tanzte und sang. Und die eindrucksvollen, selbst gebastelten Leuchthelme setzten dem Ganzen noch die Krone auf. Grandios. Auch der Auftritt der beiden Kanadierinnen von Mankind hatte Unterhaltungswert. Elektronische Darkwave-Klänge untermalten eine Performance, die als Abhandlung über schlechtes Benehmen angekündigt war. Das in dem Moment seinen Höhepunkt fand, als eine der beiden die Mini-Kamera, die bis dahin Impressionen von der Bühne zeitgleich an die Wand projizierte, in ihre Unterhose einführte und das Gestrüpp ihrer Schamhaare für alle sichtbar wurde. Kleine Fußnote zum Thema Obsession: Erotik verliert ihren Reiz, wenn man dem Objekt der Begierde zu nahe kommt. Hinter Phosphorescent  verbarg sich keineswegs ein weiterer Elektronik-Act, sondern Matthew Houk mit seiner Gitarre. Die angekündigte Band war irgendwo krank auf der Strecke geblieben. Der Vollbartträger gilt als neuer Stern am Songwriter-Himmel. Zu Recht, wie der melancholiegetränkte, aber durchaus amüsante  Auftritt zeigte. Kommen wir abschließend zu den sagenumwobenen Magik Markers, der inzwischen zum Duo geschrumpften Noise-Band aus dem Sonic-Youth-Umfeld. Der Auftritt brauchte etwas, um in Gang zu kommen. Von Elisa Ambrogio sah man zunächst nur Haare und Gitarre, die sie streckenweise mit einem Geigenbogen malträtierte. Irgendwann schien das Spiel von Gitarristin und Schlagzeuger besser zusammenzulaufen, und der Gig hielt einige wenige Momente bereit, die dem Ruf der Band gerecht wurden. Aber irgendwie hatten wir mehr erwartet. Vielleicht waren wir auch einfach nur müde und etwas übersättigt am nunmehr vierten Abend dieses an Höhepunkten reichen Festivals.

Und die waren nicht nur in musikalischen Live-Acts zu suchen. Auch das Rahmenprogramm hielt einige Perlen bereit. Am letzten Abend wurde das Rätsel um das Projekt "efemer" der Musikanten von Amber and Gold gelüftet. Die hatten sich 24 Stunden in ein Plastik-Iglo-Zelt im Stadtpark eingenistet, einen bekannten Popsong auf die Länge eines Tages gedehnt und darüber improvisiert. Das gefilmte Ergebnis bekamen wir dann – wieder auf die ursprüngliche Länge zurückkomprimiert – auf der Leinwand zu sehen. Und dass es "Take Me Out" von Franz Ferdinand gewesen ist, war dann erstaunlicherweise sehr leicht zu erkennen. Eine runde Sache. Dagegen hinterließ die als Anger-Hommage angelegte Theater-Performance "Anger/Nation" von Radiohole eher Fragezeichen. Auch wenn sie spannend anzuschauen war. Aber wo ist der Sinn, wenn sich zwei Akteure eine gefühlte Viertelstunde lang gegenseitig mit einer Schrotflinte in den Arsch schießen? Keine Ahnung.

Die "Endzeit-Autoinstallation" der mysteriösen Toxic Dreams/Enchanted Cars im Vorhof der Messehalle war äußerst eindrucksvoll. Insbesondere dem jeden Abend fast durchgehend trommelnden "Lone Drummer" Didi Kern in seinem kuriosen Gefährt (zwei an den Dächern zusammengeschweißte PKWs!) gebührte Respekt. Wer wollte, konnte sich außerdem im Kremser Stadtpark von Streifenhörnchen (Mitgliedern des Künstlerkollektivs Reactor) entführen lassen, beim schlechtesten Musical der Welt von H.A.P.P.Y. (mit echten Celebrities!) dabei sein, sich im schicken Pavillon ("Gazebo Extensions") von Rainer Prohaska entspannen oder mit Gob Squad auf eine magische "Instant Video Journeys"-Reise durch die Straßen von Krems gehen. Das Zentrum des Geschehens ab und an einmal zu verlassen, erweitert nämlich den Horizont. Verlass die Stadt. In Richtung Krems immer wieder gerne.

 

Links:

>> Festival-Info Donaufestival bei POP FRONTAL

>> Homepage Donaufestival

>> Gustav @ Donaufestival bei youtube.com

>> Kenneth Anger @ Donaufestival bei youtube.com

>> Die Goldenen Zitronen @ Donaufestival bei youtube.com

>> Planningtorock @ Donaufestival bei youtube.com

>> efemer @ Donaufestival bei youtube.com

>> Konzertbericht Tortoise @ Hamburg (22.07.04) bei POP FRONTAL

>> Konzertbericht Cat Power @ Berlin (06.11.06) bei POP FRONTAL

>> Konzertbericht Liars @ Hamburg (09.03.06) bei POP FRONTAL

>> Konzertbericht Aids Wolf @ Hamburg (28.04.08) bei POP FRONTAL

>> Konzertbericht The Melvins @ Berlin (22.06.05) bei POP FRONTAL

 

 

Gustav

Gustav

 

Fuckhead

Fuckhead

 

The Year Of

The Year Of

 

Naked Lunch

Naked Lunch

 

Kenneth Anger

Kenneth Anger

 

Melvins

Melvins

 

Liars

Liars

 

Tortoise

Tortoise

 

Fischerspooner

Fischerspooner

 

Die Goldenen Zitronen

Die Goldenen Zitronen

 

Ursula Rucker

Ursula Rucker

 

Aids Wolf

Aids Wolf

 

Xiu Xiu

Xiu Xiu

 

Planningtorock

Planningtorock

 

Toxic Dreams

Toxic Dreams

 

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