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Getroffen! Interview mit Jeremy Greenspan / Junior Boys in Berlin (03.11.2006)
"Der Hype ist uns egal"
Text: Claudia Hirschberger
Freitag Abend in einer Bar in Berlin-Mitte, draußen ist es schnatterkalt, und hier drinnen trinkt man
frische Pfefferminze. So auch Jeremy Greenspan von den Junior Boys, der zusammen mit seinem Mitstreiter
Matt Didemus heute Rede und Antwort steht zum neuen Album "So This Is Goodbye" und dazugehöriger
Europa-Tour. Man wirkt entspannt, wiewohl schon seit einem Monat unterwegs durch die Clubs, gestern Regensburg,
heute Berlin, und morgen geht es weiter nach Skandinavien. "Da haben wir eine riesige Fangemeinde",
sagt Jeremy. Das wundert nicht wirklich, gehört doch Skandinavien zu den Mutterländern des Elektropops.
Man denke nur an Jimi Tenor und an die vielen jungen Acts aus Schweden, die die digitale Disco vorangetrieben
haben in den vergangenen Jahren.
Und damit sind wir schon mitten im Thema, und das bereitet den Junior Boys manchmal ein bisschen Bauchschmerzen:
"Musikjournalisten versuchen immer, uns in eine Schublade zu stecken, sie sprechen uns immer auf dieses
80er-Elektropop-Ding an, und das geht völlig an dem vorbei, was wir machen." Natürlich bediene man
sich einzelner Aspekte dieser Epoche, das sei immerhin großartige Musik gewesen. Aber die musikalische
Spannbreite, so Greenspan, sei umfassender, von den 50ern bis in die Gegenwart. "Es geht um eine Form von
Eleganz, um etwas Subtiles, das findet man sehr stark auch bei den großen nordamerikanischen Interpreten
der 50er Jahre, Dean Martin, Bing Crosby, Frank Sinatra. Das inspiriert uns, das ist der Kern dessen, was wir tun."
Hat das etwas mit dem Phänomen der Krise zu tun, dass das Crooner-Genre derzeit wieder an Popularität
gewinnt? Man denke an Clicks&Cuts als begleitende Soundtapete zum Dotcom-Boom der 90er Jahre, und die
Frage scheint berechtigt, welchen Resonanzboden die Hinwendung zur Geschmeidigkeit hat. "Musik und
gesellschaftliches Umfeld reagieren natürlich aufeinander, da wird beiderseitig etwas wahrgenommen",
so Greenspan. Aber als einen Soundtrack zu sozialen Problemen dieser Zeit möchte er seine Musik nicht
missverstanden wissen. Er sieht in der aktuellen Zuwendung zum elegant-songorientierten Arrangement in der
elektronischen Musik vielmehr eine Wellenbewegung, die auf zuvor Dagewesenes reagiert. Und verortet seine
eigene Arbeiten außerhalb des derzeitigen Crooning-Hypes: "Wenn im Zentrum des Musikbusiness ein
Genre oder ein Trend aufgegriffen und breitgetreten ist, dann passiert an den Rändern etwas Neues,
etwas Aufregendes und Experimentierfreudiges. Die gute und die schlechte Musik, die sind immer gleichzeitig
da. Deswegen sind uns Hypes egal. Es passiert immer etwas jenseits des Hypes." Was die Junior Boys vom
80er-Trend unterscheide, so Greenspan, sei dieses Maß an Subtilität, diese elegante Melancholie
und die Offenheit für die gesamte Geschichte der Popmusik.
Es folgt die Frage nach der Zukunft. "China", antwortet Greenspan. Eine Platte produzieren in Shanghai,
das sei das nächste Projekt. In einem kreativen Umfeld, sich neuen Eindrücken aussetzen, sowohl musikalisch
als auch geographisch, etwas an sich herankommen lassen und dem im Studio Ausdruck verleihen. "Die letzte Platte
ist in Hamilton, Ontario, entstanden, genau wie der Vorgänger. Jetzt muss etwas ganz anderes kommen, ein Ort,
an dem noch keine Musik dieser Art produziert worden ist." Obwohl ihm und Matt Didemus das Arbeiten in der
kanadischen Kleinstadt durchaus gefällt: "Es ist nicht zu glauben, wie wenig stylish unser Lebensstil dort
ist, wie überschaubar alles ist. Aber das ist genau richtig für mich, ich will so leben. Ein Ort wie
Berlin, an dem so viel passiert, das wäre furchtbar." Sagt er, lacht und rührt ein bisschen
gedankenverloren in der frischen Pfefferminze.