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Gesehen! Frankensteins Ballet, Knall und Deep Sea Green / 26.05.2012, Köln, Blue Shell
Sonnenlicht im Ohr
Text: Katharina Schmidt, Klaus Reckert Live-Fotos: Katharina Schmidt
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Das Blue Shell bietet heute ein buntes Alternativprogramm zum sich bei hochsommerlichen Temperaturen durchaus auch anbietenden
Biergärtnern: Psychedelik, Krautpunk, Oberlippenmassagen, Avantgarde, Alien Funk, etwas VerKNALLtheit und nicht zu
vergessen: Mr. Herbie Herbsman sowie diverse "Labkräuter"... Los geht’s mit Frankensteins Ballet,
einer deutsch-russischen Kapelle aus Dortmund und Köln. Die selbst ernannte "Underground-Psychedelic-Combo
im Geiste des 70er Krautrocks" hat ein beeindruckendes Repertoire aus oben genanntem Stil-Potpourri am Start.
Frankensteins Ballet hat seit 2003 drei Studio- und drei Livealben (jeweils als CD-R, im Eigenverlag) veröffentlicht. Ihr oszillierender, wandlungsfähiger Live-Sound erinnert entfernt an alles, was schon bei Guru Guru so aufregend war bzw. ist. Hauptverantwortlich für die tanzbaren Grusel-Pirouetten sind an Drums und Percussion Thomas Hopf (u.a. Yellow Sunshine Explosion, Damo Suzuki), Manj Fathi am Bass, Alex Schönert an Gitarre und Theremin (!), am Gesang Mik Quantius (Mikrokosmos, Stahlband, Embryo, Jelly Planet, Damo Suzuki, Michael Karoli, Michael Rother, u.v.m.) sowie Sascha Jakowlew an Synthesizer und Flöte. Damo Suzuki, der berühmte Mann von Can, war übrigens zeitweilig im Publikum zugegen, aber nicht zu eigenen Beiträgen aufgelegt.
Mik bringt mit dem Zeigefinger Ober- und Unterlippe in Bewegung, "so wie kleine Kinder das machen", wie er nach dem Konzert erläutern wird. Wie er jetzt in sich und in einen Schneidersitz versunken mit meist geschlossenen Augen am Bühnenrand sitzt, scheint er sich in tiefe Trancen zu versetzen. Dazu setzt er mit dem Zeigefinger seine Lippen in Schwingungen und moduliert und verzerrt dabei den Gesang. Später sagt er, dass er das Drumherum dabei aber noch wahrnimmt. Der Auftritt des Ballets ist komplett improvisiert, es gibt keine Setlist. Mik: "Es gibt Musik, die ist Mondlicht und solche, die ist Sonnenlicht (die freie Musik, ohne festen Rahmen...)." Und obwohl Mik selbst den heutigen Gig als "eher konventionell" bezeichnet - die Sonne scheint heute strahlend hell im und vor dem Blue Shell!
Drummer Thomas Hopf und der vom Frankenstein-Fan zum Manager gewordene Sascha Wehling bezeichnen diese Musik dennoch nicht als Improvisation, weil dieser Begriff zu schnell mit Jazz in Verbindung gebracht wird. Lieber sprechen sie von "instant composition". Laut Thomas sind dabei Klang und Rhythmus entscheidend. Er erzeugt z. B. Spannung dadurch, dass er mit einem anderen Rhythmus gegen die anderen Instrumente hält. Er sieht sich als Dramaturg, der z.B. durch die Lautstärke variiert. Es gibt kein Grundgerüst, allerdings können die Musiker auf bestimmte Patterns, z.B. Schlussvarianten zurückgreifen, die man erkennt und ausspielt. Die "instant composition" basiert darauf, dass man sich gut kennt, auf Vertrauen. Man verständigt sich blind, über den Klang. Es komme auch schon mal vor, dass aus dem psychedelischen Ballett "aus Versehen" Reggae wird. Diese Freiheit fehlt Thomas in der abendländischen Musik. Die Publikumswertung, mit Tonfall und Wiederholungshäufigkeit eines Marktschreiers vorgetragen, ist ganz eindeutig: "Das hat Potenzial!"
Mit rund 70 Menschen beamen Knall an diesem Abend noch am meisten Publikum vor die kleine Shell-Bühne. Die Kölner Band produziert, initialisiert von Gründungsschlagzeuger Gerd, seit Oktober 2005 ihren Garagen-Impro-Psychedelic mit Alien Funk und Spacerock-Anleihen. Die Truppe besteht aus Baal Braini aka Brainwash (guit), Slim Nezquik (bss), Dom Muscat (voc, drms, perc, vibes) und Jonas. Der wäre eigentlich für den tiefen "Space Bass" zuständig. Den kann er heute aus gesundheitlichen Gründen nicht spielen, statt dessen benutzt er einen Daddelkonsolen-artigen Korg-Controller. Fast scheint es, als würde er mit einem Joystick als stiller Lenker, die "Vibes" im Raum steuern und sein Publikum in ferne Zwischenwelten transferieren. Doms Sprechgesang würde beim European Song Contest wohl keinen Blumentopf gewinnen - zu dieser Musik aber passt er großartig. Wenn er in Melodien übergeht, presst, ruft er verzweifelt wie ein Ertrinkender aus dem Off.
Die sympathischen Knallköppe beschreiben sich selbst als Kölner Garagen-Impro-Projekt mit viel Liebe für Grooves, Vibes und das Psychedelische in der Musik, "um unseren Soundteppich zum Fliegen zu bringen. Alles, was wir je an Aufnahmen rausgebracht haben (und werden) ist für den Moment gespielt, so nie wieder reproduzierbar und im Geiste von Bands wie Can geschaffen." Als weitere Einflüsse nennen sie Psychedelic, Kraut, Pink Floyd, Black Sabbath, die Doors... Erfrischend ist der Abstand, mit dem die Knallisten sich bei all der Reiserei durch die Zwischenwelt selbst sehen. Brainwash: "Eigentlich spielt's keine Rolle, ob wir geniale Dilettanten oder dilettantische Genies sind. Man verständigt sich vor dem Gig über ein Codewort über Akkordfolgen und Tonart. Es werden keine Songs eingeübt, sondern Muster einstudiert, Kommunikation eingeübt." Der eingeübte Space-Jargon erlaube während des Spielens Offenheit "für jedes Verbrechen". Dabei sind Brainwashs eigene Beiträge zwar durchaus virtuos, doch er spielt sein Instrument sehr "perkussiv", setzt es stark rhythmisch ein.
Deep Sea Green holen uns temporeich und voller Energie auf den irdischen Teppich zurück. Die seit 2008 bestehende Garagenband aus London um die Brüder Jon (Gitarre) und Daniel Jefford (Drums), nebst Trent Halliday (Vocals, Gitarre) und Marco Menestrina (Bass) mixen Londoner Underground mit Psychedelic und Blues zu einer satten Stoner-Mischung. Sie sehen sich vom 60er/70er Garage beeinflusst, von Blues und Psychedelik, mit Elementen von Surf und Noise. Nachdem die vier 2010 ihr Debütalbum und 2011 die EP "Valsorda" veröffentlicht haben, sind sie nun auf ihrer ersten Europatour. Die Band mit den nachvollziehbarsten Songstrukturen und dem fettesten Fuzz-Sound des Abends - aber nicht unbedingt die Spannendste. Wir schließen uns jedenfalls gerne dem röhrenden Publikums-Juroren an: Das hat Potenzial!
Knall sind Wiederholungstäter: bereits am 27.01.2012 im Blue Shell zugange