Mit Pain Of Salvation ist das ein wenig wie mit einer Liebschaft. Oder noch besser: wie mit dem mit Leidenschaft und ebenso viel Kritik geliebten besten Freund. Als "The Perfect Element" rauskam, konnte man kaum glauben, dass es einen derart duften Typ überhaupt geben sollte. "Remedy Lane" markiert die Zeit, in der der Kumpel durch zu purer Schönheit sublimierten Tod und Verderben ging - mit uns an seiner Seite. "Be" war die erste schlimme Krise. Der Kumpel redete nur noch in Fremdworten, lernte die Trivial Pursuit-Karten auswendig, um zu gewinnen. "Scarsick" brachte den Bruch. Das Ende. Doch nicht für immer: Mit den wunderbaren zwei "Road Salt"-Alben lernte man sich wieder neu kennen, respektieren. Und lieben. Und ging mithin auch wieder zum Konzert...
Bei der Vorgruppe - nicht nur des Abends, sondern der gesamten Europatour - setzt sich das Thema Freundschaft fort. Denn mit Simon, Cryptex' Bandleader, verbindet nicht erst seit einem schon im September 2011 >> geführten Interview so etwas wie eine Brieffreundschaft. Ihr Full-Length-Debüt "Good Morning, How Did You Live" fragte sich in die persönlichen >> Jahres-Top-10 2011. Entsprechend groß war die Neugier, wie diese Kleinodien aus 70er Jahre inspiriertem Retro-Folk-Prog-Rock live funktionieren würden. So viel vorab: einfach nur prächtig. Das Trio ist eine der stärksten je gesehenen Live-Formationen mit einem enorm vollen Sound, wohl nicht zuletzt, da alle drei sich am Gesang beteiligen. Und Simon Moskon ist einfach ein geborenes Rampentier.
Bevor sich all dies feststellen ließ, gab es zunächst nach vielen Jahren der Zechen-Abstinenz ein Wiedersehen mit Bochums wohl kuscheligster 1.000er Halle. Schön auch, feststellen zu können, dass bei diesem Progkonzert endlich mal nicht nur alte Männer wie man selbst zugegen waren: junges Volk dominierte, hübsche Mädchen allüberall, sogar Zöpfe waren zu erspähen - man vergleiche das etwa mit den Zauberberg-artigen Szenen beim Besuch eines Steve Hackett-Konzerts.
Die Dramaturgie des Cryptex-Auftritts orientierte sich schlicht und effektvoll an dem von "Good Morning". Die Live-Arrangements lassen hier genau gar nichts vermissen und bieten reizvolle Abwechslung, u.a. dadurch, dass sich die Band auch durch die Bühnen-Situation den sichtlichen Spaß an beispielsweise Sansula (als Intro für "It's Mine), Glockenspiel, Bluesharp (bejubeltes Solo bei "It's Mine") oder Didgeridoo nicht nehmen lässt. Nicht mal das opulente "Young Guns"-Intro von "Most Lovable Monster" kam zu kurz. Martin Linke brillierte an elektrischer wie akustischer Gitarre und kann locker zwei Gitarristen ersetzen. Schlagwerker Ramón Fleig ist ein Ruhepol der Band, der den trotz ihrer Kürze oft vielteiligen, anspruchsvollen Stücken Struktur gibt. Leider hatte er als einziger an diesem Abend einen etwas dumpfen, wenig durchsetzungsfähigen Sound.
Das "Audience Participation"-Prinzip muss Simon übrigens bei Altmeister Zappa studiert haben. Bei laufendem Gig ersann er spaßige Aktionen, beispielsweise die, dass das Publikum gefälligst zu buhen statt zu johlen habe. Er scheint selbst hingerissen und ruft von der Bühne der ausverkauften Zeche: "Das wird in die Musikgeschichte eingehen. Und Klaus schreibt das dann auf POP FRONTAL". Das hatte meinereiner auch noch nicht erlebt. Genau so wenig, dass ein Künstler in den Fotograben hopst, um mich nach dem Gig zu umarmen. So wie dieser Prachtgig mit dem Album-Intro begonnen hatte, so endete er - leider, aber begreiflicherweise zugabenlos - mit dessen Outro.
Insider wissen, dass Percussion-Instrumente bei Cryptex keine wirklich hohe Lebenserwartung haben. Und so schmetterte Simon auch diesmal beim Finale der letzten Nummer sein Tamburin auf die Bühne, um die Vehemenz des Auftritts passend zu unterstreichen. Dummer Zufall, dass es beim Abprallen einen der Fotografen am Kopf traf und sogar dabei verletzte. Lutz, dem wir übrigens diesmal die starken Fotos verdanken, nahm diesen Skalpierungsversuch allerdings mit viel Humor und Souveränität. Umso mehr, als Simon alsbald persönlich mit Verbandskasten zur Verarztung erschien.
Es spricht für Pain Of Salvation, dass sie derartig sympathische, talentierte, allerdings noch vor dem großen Durchbruch stehende Newbies überhaupt mit auf Tour nehmen. Doch in der aktuellen Form ist das kein Risiko für die Schweden mehr, wie es das in den Jahren 2004 bis 2009 sehr wohl hätte sein können. Die geniale Frontzicke Daniel Gildenlöw war gottlob prächtiger Laune (das ist er wahrlich nicht immer). Seine Band, die abermals zwei Abgänge zu verdauen hatte, wirkte bereits wunderbar eingespielt. Der isländische Gitarrist Ragnar ZSolberg ist virtuos und optisch wie spieldynamisch ein Gegenpart, wie Daniel ihn braucht. Daniel "D2" Karlsson wechselte an die Tasten, da Gustaf Hielm (u.a. Meshuggah) an den P.O.S.-Bass zurückgekehrt ist. Die Setlist (siehe unten) war die abwechslungsreichste seit langem und brachte endlich auch ein Wiederhören mit alten Favoriten wie dem unglaublich heavy gespielten "Ashes" oder "Chainsling" (Gänsehaut!). Und das Kennenlernen von in dieser Form nie Gehörtem wie dem Kiss-Cover "She".
Auch hier übrigens starke Bemühung um das Publikum und seine aktive Einbindung in den Gig. Während eines sehr schönen Akustik-Sets sollte die Menge unbedingt tanzen. Mit deutlich mehr Charme als (sonst nicht gesparter) Galle bekam Daniel das schließlich auch noch hin. Und es entging der Aufmerksamkeit des immer noch blendend aussehenden, Feinripp tragenden Künstlers nicht, dass er von hinter der Bar aus besonders interessiert gemustert wurde. Daniel: "Normalerweise interessieren sich die Barmädchen nie für uns". Neben solchem Humor weiteres Zeichen für seine Rückkehr zur Normalität und die seiner Band: Keine Projektionen. Früher wollte er schon mal ein Konzert ausfallen lassen, nur weil ein bek...ter DVD-Player streikte. Nichts davon auf der Road Salt-Tour. Willkommen zurück, alter Freund!
PS: Wenn Cryptex in Eure Stadt kommen - nichts wie hin, Leute! Nur in der ersten Reihe kann es beim Finale vielleicht etwas gefährlich werden...