Die Neugier auf die Spielstätte war mindestens so groß wie die bangfrohe Erwartung. Würde die Jugendheroin Patti wirklich noch überzeugen? Oder würde ihr Charisma Risse zeigen, so wie bei schon so vielen anderen Altstars ihrer Generation, die keinen würdevollen Absprung finden? Keine Risse - im Gegenteil! Mit dem Kunst!Rasen erlebten wir einen mehr als vollwertigen "Ersatz" für die zum überregionalen Markenzeichen gewordenen Bonner Open-Air-Konzerte auf dem Museumsplatz. Patti Smith und ihre ausgezeichnete Band begeisterten von der ersten Minute an. Sogar die Vorgruppe gab keinerlei Anlass zu Small Talk und Geländeerkundung - was Wunder, das Vorglühen übernahmen in höchst eleganter Form The Walkabouts.
Noch fünf Minuten vor dem angekündigten, aber ohnehin frühen (für etliche verspätet einlaufende Besucher zu frühen) Start um 19 Uhr marschierten sie los, mit "Rebecca Wild" und Chris Eckman am Mikro, gefolgt vom Klassiker "The Lights Will Stay On" mit Carla Torgersons spröd-schönem Gesang und relativ viel Kunst-Streichern und -Oboe. "Long Drive In A Slow Machine" ist eine relativ rockige Nummer, das dankbare Publikum klatschte unaufgefordert mit. "The Stopping-Off Place" ist (passend: "Move Along, cannot stay") dann schon der letzte Song der Band aus Seattle. Warum das alles eine so passende Einstimmung auf das Folgende war, erläuterte Chris auch noch. Als 17-Jähriger habe er sich nach seinem ersten Patti-Smith-Konzert in Seattle als neuer Mensch gefühlt, "a changed man".
Komplett ausgetauscht wurden wir vielleicht nicht, als nach perfekt schnellem Umbau bereits um 19:50 Uhr die Patti Smith Band den Kunst!Rasen betrat. Zumindest dauerte die Verwandlung ein, zwei Lieder. Was hat diese charismatische Künstlerin nicht schon alles über sich ergehen/schreiben lassen müssen: "Die Schamanin des Rock" (Zitat aus dem Pressetext). "Die Schamanin des Pop" (sic! Bonner General-Anzeiger). "Draculas sanfte Tochter - die Poetin des Punkrock" (Spiegel - dann muss es ja stimmen). Oder "Forever the queen of cool!" (Michael Stipe, R.E.M.). Gesichert sind hingegen Fakten wie: Fotografin, Malerin, Poetin. Ausnahmemusikerin und vor allem -sängerin. Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame (2007); "National Book Award" für "Just Kids" (2010), "Polar Music Prize" (2011).
Pattis Band führte sich mit "Dancing Barefoot" ideal ein, eine völlig entspannt wirkende Frau Smith wiegte sich auf der jungen Bühne und erweckte dann mit einem eigenen Tanz den Song zum Leben. Ihr Reigen lag bezaubernder Weise zwischen Carlas salontauglichem Trippeln im Etuikleid und - wirklich - einem barfuß tanzenden Mädchen. Die vierköpfige Band um (gottlob immer noch) Lenny Kaye liefert jetzt und im Folgenden den perfekten Hintergrund.
"Redondo Beach" - der Reggae passte ideal in dieses Szenario und hätte auch beim soeben 40 Kilometer von hier zu Ende gegangenen Summer Jam eine gute Figur gemacht. Als nächstes richtete Patti - was viel über sie verrät - die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Schönheit der Umgebung, in Sonderheit eine wundervolle alte Blutbuche am hinteren Rand des Areals.
Für das sanfte "April Fool" vom aktuellen Album "Banga" übernimmt Lenny den Bass, um dem Bassisten die Keyboards zu überlassen. "Fuji-San" ist eine beschwörend vorgetragene Würdigung der aktuellen Prüfungen des japanischen Volks. "Free Money" hingegen geht ab wie die Punk-Wutz. "This Is The Girl" ist ein einfühlsamer Nachruf auf Amy Winehouse. Vor "Beneath The Southern Cross" gewinnt die immer noch auf eine indianische Weise androgyne Schönheit verströmende 65-jährige die letzten Herzen im Publikum im Sturm, in dem sie auf Bonn, auf Beethoven und seine besondere Bedeutung für sie eingeht: Ihr verstorbener Ehemann Fred "Sonic" Smith hatte den deutschen Klassiker geliebt. Für ihn habe die Reihung "1. Beethoven 2. Coltrane 3. Hendrix" gegolten. Anlässlich eines Konzerts 1978 in Bonn hatte sie eine Beethoven-Büste gekauft, die heute noch auf dem heimischen Klavier steht. Weitere Anekdoten bezogen sich auf den Umstand, dass Beethoven sich in genialer Rage beim Komponieren immer mit Tinte bekleckert hatte. Und was das historisch für Patti Smith und das Sofa ihrer Mutter bedeutet hat...
Nach "Beneath" gönnt die Hohepriesterin sich eine Pause. Sie konnte sich darauf verlassen, dass die Band mit einem von gleich zwei exzellenten Sängern (Lenny + Bassist) vorgetragenen Medley aus u.a. "Night Time Is The Right Time", "Nothing On You" oder "Born To Lose" übernimmt. Das rockte teils erheblich das Haus, während man bei Interesse durch die Bäume rechts von der Bühne einen romantischen Sonnenuntergang über dem Rhein beobachten konnte.
Die Chefin kehrte mit dem eher meditativen "Nine" auf die Bühne zurück. "Pissing In A River" bildete einen ersten Höhepunkt. Pattis Stimme ist tatsächlich sogar noch kräftiger und in den Bann schlagender geworden, im direkten Vergleich etwa zur Studioversion dieses auch auf Platte schon meisterlichen, bildmächtigen Songs.
Beim Megahit "Because The Night" fielen besonders auf: die ausgerechnet hier etwas statische Rhythmus-Sektion, die erstmals aktivierten "Blindmacher" (frontal ins Publikum strahlende Spotbündel) und Lennys grandioses Solo. Mit dem traditionellen "Gloria" (vgl. auch Jim oder Van Morrisons Versionen) endete das offizielle Set.
Der von den erschienenen ca. 2.300 Begeisterten eiligst erklatschte Zugabenteil umfasste mit "Banga" das Titelstück der aktuellen Scheibe, "People Have The Power" und nach der sich permanent bis zu einem gebrüllten "Use Your Rights" hochpeitschenden Ansage eine vor Energie knisternde Version von "Rock'n'Roll Nigger", bei der Patti bezeichnenderweise die Saiten von ihrer Stratocaster reißt - statt die Fendergitarre selbst zu zerkloppen. Also leider kein "Frederick" oder "Broken Flag". Trotzdem stimmte an diesem Montagabend wirklich fast alles. Famous last words: "Be free. Be happy. Be you." Aber nicht in predigendem Kanzelton. Sondern, als würde einen die/der beste Freund/in liebevoll an diese ewig geltenden Vorsätze erinnern...