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Gesehen! Reeperbahn Festival / 24. – 26.09.2009, Hamburg, Kiez

Vollblüter und müde Gäule

Text: Simone Deckner, Michael Kellenbenz, Sandra Kriebitzsch, Mikel Plett       Live-Fotos: Michael Kellenbenz

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Das Motto an diesem Wochenende hieß „Wählen“! Und damit ist in den letzten Septembertagen des Jahres 2009 keineswegs nur die anstehende Bundestagswahl gemeint. Genauso wenig, wie sich wohl jeder Bundesbürger das Parteiprogramm aller zur Wahl stehenden Parteien zu Gemüte geführt hat, ist es beim Hamburger Reeperbahn Festival möglich, sich im Vorfeld mit jeder der 154 bestätigten Bands zu beschäftigen - oder dann gar allen Auftritten beizuwohnen. Es galt also, im Programmheft seine Kreuze zu setzen und zu hoffen, beim Gang in die Clubs kein Highlight zu verpassen. Und wie im echten Leben bietet auch eingehendes Studieren des Programms und eifriges Vorabhören von Myspace-Seiten keine Garantie dafür, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben. Einige müde Gäule waren dann schließlich dabei, aber auch überraschend tolle Vollblut-Acts, für die sich der dreitägige Galopp durch die Hamburger Club-Institutionen gelohnt hat. Aber gehen wir zurück auf Los und beginnen mit unserem Bericht am Donnerstagabend…

The Asteroids Galaxy Tour

The Asteroids Galaxy Tour

Donnerstag

Der Donnerstag ist traditionellerweise der „kleine Tag“ des Reeperbahn Festivals, ein paar Clubs eröffnen erst am Freitag ihre Tore. Und obwohl es keine Tickets mehr gibt, sind die meisten Clubs erfreulicherweise nicht bis zum Bersten gefüllt. Selbst beim Headliner Dinosaur Jr. am späten Abend wäre noch Platz gewesen. Aber der Reihe nach: um es langsam angehen zu lassen, verschlägt es uns zunächst ins gemütliche Imperial-Theater, wo wir in bequemen Sesseln zum Festivalauftakt luftig-leichten Chanson-Pop von Berry goutieren. Die junge Dame, die als "französischer Shootingstar" gehandelt wird, zeigt Bühnenpräsenz und Hingabe, allerdings entbehren ihre lasziven Körperbewegungen nicht einer gewissen Komik. Insgesamt kann sie mit ihrem von zwei alternden Gitarrenmuckern begleiteten zarten Gesang nicht überzeugen. Das Missgeschick des Abends unterläuft Stefanie Hempel in Angies Nightclub. Vor Aufregung blieb der Kapodaster in der Garderobe liegen, was die Gute erst nach dem zweiten Song bemerkt. Der Holländer Alain Clark kommt mit solidem Radio-Soul, der seine Hörer auf NDR2 suchen wird, begeistert aber gleich zu Beginn im Familienduett mit dem eigenen Vater.

Der Versuch, auf derben Rock’n’Roll im Molotow umzusatteln, scheitert aufgrund von widerlichen Schweißwolken, die aus dem Kellerclub emporsteigen. Die beiden schottischen Bands Dananananakroyd und Future Of The  Left haben das Publikum ordentlich durchgerockt – wie uns Menschen berichten, die aussehen, als hätten sie gerade einen Wet-T-Shirt-Contest gewonnen. Wild tanzendes Volk ist man bis dato auch von Konzerten von King Khan & The Shrines gewohnt gewesen: der Auftritt des indo-kanadischen Wirbelwinds mit seinen Soulboys gerät im (vielleicht für diesen Act zu großen) Docks diesmal leider zum lauen Lüftchen. Also hoffen wir in der vergleichsweise klitzekleinen Hasenschaukel unser Glück zu finden: die charmante Kiezkneipe ist aber so überfüllt, dass wir nur von draußen durch das Schaufenster den mitreißenden Auftritt des kleinen Dubliner Grand Pocket Orchestras verfolgen können, das in Punkto kurioses Instrumentarium ganz weit vorne rangiert.

Auf dem Reeperbahn Festival gilt es auch, Clubs zu entdecken, in denen sich nicht die Szene tummelt, in der man sich normalerweise bewegt. So verschlägt es uns ins Moondoo, das zwar beeindruckend stylisches Interieur, aber mit Brixtonboogie einen Act der Sorte bietet, bei dem sich zumindest uns die Zehennägel hochrollen. „Funky, funky“ ist das Motto der Hamburger, die unter anderem Standards wie „Fever“ zum Besten geben. Da fühlen wir uns später bei Jazzanova im Schmidts Tivoli schon besser aufgehoben: die geben sich erstaunlich eingängig, frisch und zeigen, dass sie eigentlich nie wirklich weg waren.

Zuvor hieß es aber noch zurück ins Imperial, um in besagten weichen Theatersitzen Luft zu holen und dem Auftritt von J. Tillman, seines Zeichens Schlagzeuger der erfolgreichen Neo-Hippie-Formation Fleet Foxes, zu lauschen. Und der macht alles richtig: in seiner neuen Rolle als Sänger und Gitarrist liefert er ein intimes, bewegendes Konzert, in dessen Verlauf vor allem der fantastische Geschmack deutschen Wassers zur Sprache kommt. Fragile Folksongs, in Szene gesetzt von zwei Gitarren, Bass, Drums und Pedalsteel gipfeln zur Freude des Publikums hin und wieder sogar im lauten Feedbackgewitter. Großartig. Apropros Feedback: Zum Abschluss des ersten Tages gibt es dann wie erwartet richtig auf die Ohren. Dinosaur Jr. machen druckvoll klar, dass sich Verstärker – im Gegensatz zu den bisher gesehenen Bands – auch richtig aufdrehen lassen. Wortkarg wie eh und je kredenzt das Trio gewohnt hochkarätigen Lärm, der das zahlreich erschienene Publikum in Freudentaumel versetzt.

 

 

 

Freitag

Das Programm des Freitags ist dann deutlich üppiger und erfordert, Entscheidungen zu treffen, die zum Verzicht auf die eine oder andere gern gesehene Band führen. Die Headliner Emiliana Torrini und natürlich Deichkind lassen massenhaften Publikumsandrang befürchten. Und tatsächlich: sogar bei den einen oder anderen kleinen Acts – zum Beispiel bei Seasick Steve oder bei The Micragirls – bleibt uns wegen Überfüllung der Eintritt verwehrt. Bei anderen – wie bei den Hamburger Indie-Darlings von der Gruppe Sport - flüchten wir schnell wieder aus allzu gut besuchten und schlecht gelüfteten Räumen. Aber andererseits bleiben durchaus viele Konzerte, bei denen wir uns unbedrängt in Ruhe den auftretenden Bands widmen können.

Am frühen Freitagabend muss zunächst die Frage gestattet sein, ob es eine gute Idee gewesen ist, Egotronic als erste Band des Abends auftreten zu lassen. Kurze Antwort: Ja, sehr gute Idee! Bereits um kurz nach acht ist das Uebel & Gefährlich beinahe voll, der Bass wummert, das Publikum schreit, springt und tanzt ekstatisch. Der Schweiß tropft bereits beim zweiten Song "Raven gegen Deutschland" von der Decke, auch wenn sich zwei Tage später partout kein passendes Kästchen auf dem Stimmzettel finden mag. Besonderen Anklang finden in der Zugabe eingebaute 90er Eurodance-Perlen wie "Mr. Vain". Wahnsinn!

Großes Rätselraten anschließend im Knust. Was heißt denn bitte Eagle*Seagull solo? Die Antwort darauf lautet: Eli Mardock und Carrie Butler Skiles ohne den Rest der Band.  Deren sparsam instrumentierte Versionen alter und neuer Songs - wobei Gitarre, E-Piano und Geige ständig hin und her gewechselt werden - verbreiten eine erhabene, fast schon majestätische Stimmung, die Lust auf das kommende Album der Band aus Nebraska macht. Äußerst charmant gerät auch der blumendekorierte Auftritt von Gemma Ray im Knust. Die langbeinige Dame aus Essex und ihre Band servieren sixties-getränkte Old-School-Pop-Songs, bei denen Schwermut und Tanzbein nicht im Widerspruch zueinander stehen.

ClickClickDecker überrascht in den Fliegenden Bauten dann mit neuen Arrangements seiner Stücke. Gemeinsam mit Oliver Stangl beglückt er das bis auf den letzten Platz besetzte Zelt mit Klängen aus Tasten, Laptop, Gitarre und Pedalsteel. Verzauberung durch beschwingte Melancholie und Gänsehaut – aber leider viel zu viele Leute, die immer auf eins und drei mitklatschen.

Die Dancerock-Fraktion findet sich schließlich wieder im Uebel & Gefährlich ein, um Reverend & The Makers und WhoMadeWho zu lauschen. Ersterer gibt sich im Donkey Jacket und mit souligem Gesang betont Britisch, während seine Band tanzflächenfüllend Beat und Gitarre zu einen weiß. Beeindruckend in jedem Fall, wie lange es der Reverend in seiner für die Innentemperaturen des Clubs vermutlich viel zu warmen Jacke aushält – aber irgendwann lässt er doch die Hüllen fallen. Auf die Dänen von WhoMadeWho verzichten wir dann zugunsten von Masha Qrella. Der Weg vom Uebel & Gefährlich zurück auf die Reeperbahn gestaltet sich leider zeitraubender als erwartet: im Angie’s Night Club kommen wir zu spät an und erhaschen nur noch das letzte Lied. Die bezaubernde Berlinerin und ihre Band sind bestens aufgelegt und tragen ihre Gitarren-Pop-Perlen in beschwingter Manier vor. Unprätentiös und anmutig, nach wie vor ein Juwel in der Indie-Szene unseres Landes. Trotz begierig nach Zugaben schreiendem Publikum zeigt sich der Moderator mit Verweis auf den streng einzuhaltenden Zeitplan unerbittlich.

Der Auftritt von Deichkind bringt dann wie erwartet die Große Freiheit zum Platzen. Die Band macht Party, bis der Arzt kommt. Der trägt diesmal nur keinen weißen Kittel, sondern blaue Uniform und versucht, dem Remmidemmi der Massen Einhalt zu gebieten. „Auf und ab“ hüpft das Publikum unverdrossen, während auf der Bühne Trampolinsprünge für Stimmung sorgen. Im Schlauchboot heißt es wieder Crowd-Surfing, und die „Zitze“ spendet dem durstigen Publikum den „Saft der Liebe“. Party, Party, Party! Mit tonnenweise Vorschusslorbeeren behangen schleichen Punkt Mitternacht Katzenjammer im Knust auf die Bühne und wirken phasenweise seltsam müde. Zu viel Hype? Zu viel Alles? Zu viel Ronja Räubertochter? Oder alles nur ein Missverständnis? Macht aber gar nichts, denn den Abend hatte Wallis Bird ganz früh an selber Stelle ohnehin bereits gewonnen.

 

Samstag

Einen tollen Auftakt liefert Sophie Hunger in den Fliegenden Bauten – eines der besten Konzerte des gesamten Festivals. Beginnend mit einer A-Capella-Nummer auf Schwyzerdütsch (!) überzeugt sie mit ihrer großartigen Stimme, die sich zwischen Björk und Edie Brickell bewegt. Sie spielt abwechselnd Gitarre und Piano und erzählt heitere Anekdoten, zum Beispiel, wie sie in eine Ausstellung eines Schweizer Landsmannes in Hamburg ging: dort hat sie besonders das Selbstporträt einer 94-Jährigen beeindruckt, die einen Revolver auf das Publikum und einen auf ihren eigenen Kopf gerichtet hatte – eine Szene, die Sophie Hunger zu einem ihrer Songs inspirierte. Das Publikum bedankt sich mit Standing Ovations, die Band kommt für vier Zugaben zurück. Der allerletzte Song wird komplett mit ausgestöpselten Instrumenten und ohne Mikro gespielt: Gänsehaut! Durchweg ein fantastischer Auftritt.

When Saints Go Machine im Knust eröffnen einen Dänischen Abend. Allerdings ohne die angekündigte Neuerfindung des Elektropops. Auch nicht neu aber schlichtweg geil: The Asteroids Galaxy Tour später an gleicher Stelle. Der Club platzt zu recht aus allen Partynähten. Plastik-Efeu und Naturdeko gibt es bei Tele in der Großen Freiheit. Überraschung: Sänger Francesco Wilkening trägt auf einmal Hornbrille und Schlapphut und macht auf Berliner Styler, die Musik dazu klingt aber eher wie eine kitschigere Version der Jazzkantine. Alles sehr abgehangen und total öde. Hier hat sich das mit Abstand hässlichste Publikum des ganzen Abends eingefunden: langweilige Studentenpärchen mit Strickpullis und Männer in C&A-Hemden. Wir verlassen fluchtartig den Saal, als begeisterte Frauen vor der Bühne irgendwas singen von „einem kleinen Haus, das bleibt“. Schöne heile Welt.

Im Grünspan sitzt Simone White sehr einsam und verloren nur mit ihrer Gitarre auf der zu großen Bühne und singt ein langsames, zerbrechliches Lied nach dem anderen. Was in einer intimeren Umgebung wie der Hasenschaukel vor Monaten noch super funktionierte, klappt im großen Rund nicht. Zu austauschbar wirken die Songs, und die Ausstrahlung einer Grande Dame hat die White auch (noch) nicht.

Auf dem Weg zu den Editors noch ein Zwischenstopp im Moondoo, wo Prinz Pi die hochgesteckten Erwartungen, die "Antithese des Durchschnittsrappers" zu sein, auch nicht so recht erfüllen kann. Zu beliebig knallen einem die Beats um die Ohren, zu platt sind die Reime, die er und seine Crew von der kleinen Bühne in Richtung des feierwilligen Publikums brüllen.

Die Editors als Headliner des Samstags liefern im Anschluss im bis auf den letzten Platz gefüllten Docks gut ab. Vor dem Club reicht die Schlange bis hinter Burger King. Fast so schlimm wie Tags zuvor bei Deichkind – nur die Polizei kommt dieses Mal nicht. Die Briten präsentieren erstmals Songs ihres neuen, noch unveröffentlichten Albums „In This Light And On This Evening“ live. Der Sound der Band hat sich nachhaltig verändert: statt Gitarren dominieren auf Album Nummer 3 Synthesizer und Keyboards. Die 80er lassen grüßen – noch mehr als zuvor. Die nur auf MySpace veröffentlichte Single „Papillon“ wird schon fleißig mitgesungen. Aber auch andere neue Songs wie „Bricks and Mortar“ und „You Don’t Know Love“, die eher an Depeche Mode und die Sisters of Mercy als an Interpol erinnern, kommen hervorragend an. Natürlich fehlen auch Klassiker wie „Smokers Outside The Hospital Doors“ und „Munich“ nicht. Sehr wahrscheinlich bald ganz oben in den Charts - und diese vier Männer sehen wir demnächst dann wohl nur noch in Stadien.

Zum Abschluss des Reeperbahn Festivals treten zwei Paradepferde der Hamburger Schule parallel an: In den Fliegenden Bauten Phantom/Ghost mit Tocotronics Dirk von Lowtzow und Kante in der Großen Freiheit. Kante ein Selbstgänger? Heute nicht, denn offensichtlich sind alle auf Entdeckungstour und so bleibt "nur" ein halb gefüllter Laden übrig. Die Band wählt dieses Mal das straighte, laute Set. Bei Phantom/Ghost wird auf der Bühne die Entwicklung des aktuellen Albums "Thrown Out Of Drama School" konsequent fortgesetzt. Nicht einmal älteren Stücken wie „Relax, it’s only a ghost“ wird eine Winzigkeit Elektronik zugestanden. Ausschließlich die Stimme Dirk von Lowtzows und das Klavierspiel Thies Mynthers versetzen die Zuhörer schnell in eine Stimmung zwischen Kammerkonzert und Varieté. Charmant, extravagant und immer wieder Yves Saint Laurent. Und nicht zu vergessen die beste Right Said Fred-Coverversion ever. Beeindruckend, aber einen fallenden Vorhang und einen kräftigen Tusch hätte man sich am Ende dann doch gewünscht, um nach drei Tagen Festivaltaumel standesgemäß in die Nacht und den anstehenden Wahlsonntag entlassen zu werden. Dort standen zwar weniger Parteien zur Wahl als Bands beim Reeperbahn Festival – leichter fiel das Kreuze setzen aber leider nicht.

 

Links:

>> Festivalinfo Reeperbahn Festival 2009 (mit Bandinfos) bei POP FRONTAL

>> Homepage Reeperbahn Festival

>> Festival-Bericht Reeperbahn Festival 2008 bei POP FRONTAL

>> Festival-Bericht Reeperbahn Festival 2007 bei POP FRONTAL

>> Festival-Bericht Reeperbahn Festival 2006 bei POP FRONTAL

 

 

Alain Clark

 

Alain Clark

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Jazzanova

 

Jazzanova

 

Jazzanova

Jazzanova

 

J. Tillman

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Lenka

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Das Pop

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Eagle*Seagull

 

Eagle*Seagull

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Gemma Ray

 

Gemma Ray

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Katzenjammer

Katzenjammer

 

Wallis Bird

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The Asteroids Galaxy Tour

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When Saints Go Machine

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Sophia

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Kante

 

Kante

Kante

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