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Gelesen! Stephen Lambe - Citizens Of Hope And Glory - The Story Of Progressive Rock
Text: Klaus Reckert
Der britische Autor Stephen Lambe kennt sich in seiner heimischen Prog- und Live-Szene aus: Er war seit 2006 Mitveranstalter des Summer's End Festivals, ist regelmäßiger Beiträger zu den Publikationen der Classic Rock Society, der er als "Director" angehört. Er engagiert sich seit Jahren stark für die ProgRock-Band Magenta, für die er u.a. die Website betreut. Überdies ist er im Hauptberuf Vertriebsleiter des Amberley Verlags, The Hill, Stroud. Da lag es vermutlich nahe, all diese Erkenntnisse in seine ganze eigene Prog-Historie und mithin in Buchform zu gießen. Soviel vorab: Das ein Genesis-Zitat (aus "Dancing With The Moonlit Knight") im Haupttitel führende Buch ergibt für alle, die an Prog- und durchaus auch an Live-Musik interessiert sind, eine fesselnde Lektüre. An diesem Buch kann man sich erbauen, aber auch durchaus mal reiben - wenn man einige grundsätzliche Schwachpunkte zu akzeptieren bereit ist.
Was wird geboten:
Der Autor sagt klipp und klar, wo er herkommt und welche Prog-Sozialisation er hat ("by the time I had had my Prog epiphany in 1978 it was all over"). Er macht deutlich, was er für den nie wieder erreichten Höhenkamm der Progkultur hält (S. 26: die britischen Bands des Jahres 1971. Verbesserungsvorschlag: das sollte man auch auf den Klappentext schreiben, um möglichen Enttäuschungen vorzubeugen). Und Yes' "Close To The Edge" ist für Lambe ihr einsamer Gipfel. Er definiert seine Zielgruppe sauber und vorsichtig: Nicht für die Experten will er schreiben, sondern eher Novizen und Fans eine Einführung geben.
Die werden in gefälligem, anekdotenreichem und meinungsfreudigem Stil durch die Prog-Historie geführt - vom "New Underground" (S. 12 ff., Pink Floyd, Moody Blues, Procul Harum) bis heute, wobei das im Jahr 2011 erschienene Buch keine Alben nach 2010 mehr berücksichtigt.
Lambe erläutert beispielsweise die Bedeutung des Live-Auftritts und der Bühnenimprovisation für Jimi Hendrix und alles, was nach ihm kam (S. 13). Wir erfahren von der speziellen Bedeutung von selbst ersonnenen Lightshows für King Crimson: die waren imstande, einzelne Musikpassagen oder auch nur Akkorde oder gar Noten hervorzuheben (S. 18). Aber wir erfahren auch, wie sich die Robert Fripp-Truppe erstmalig auf Tour in den USA aufgelöst hat (S. 30). Ein ganzes Kapitel widmet sich diesen Bühnen-Erfahrungen ("Coming To You Live: Progressive Rock On Stage", S. 94 ff.) und der Anekdotik, die sie bieten. Alle erwartbaren und üblichen Verdächtigen erscheinen: Yes (Bühnendesigns und -unfälle), Rush (Projektionen), Peter Gabriel, Fish, Marillion und IQ (Bühnen-Make-up), Geoff Mann/Twelfth Night (Uniformen auf der Bühne).
Ohne eine "Albumliste" aus Einkaufsempfehlungen abliefern zu wollen, strukturiert der Autor sein Werk doch durch regelmäßig eingestreute Rezensionen zu Werken, die er für zentral hält. Ich habe 66 gezählt, von denen einige auch in meinem Koffer "für die Insel" landen würden. Ein Testkauf von zwei in diesem Koffer fehlenden erlebte ich durchaus als Bereicherung.
Was gefällt besonders:
Die Bedeutung der New Wave Of British Heavy Metal (NWOBHM) für die Entstehung des Neo Prog und die generelle Renaissance der progressiven Musik hatte ich noch nie so dargestellt gesehen und verstanden. Der Band enthält zahlreiche meist attraktive Live-Fotos in Erstveröffentlichung, die dem sich hierfür vielfach bedankenden Autoren gratis zur Verfügung gestellt worden sind. Sie stammen häufig von relativ aktuellen Ausgaben von Nearfest und Co. Der "Preis" dafür ist, dass Legenden wie Banco, Hatfield And The North, PFM, Renaissance u.v.a. nicht mit Motiven aus ihren Hochzeiten in den Goldenen Siebzigern, sondern in den jeweils aktuellen Besetzungen verewigt sind. Doch das hat durchaus auch 'was.
Wo gibt es noch Schwachstellen:
Stephens Edelfeder ist eindeutig in Union-Jack-Farben getaucht. Bei der Auswahl seiner Themen und Vertiefungen trägt er ganz offensichtlich eine britische Brille. Bisweilen passiert es ihm, dass er die britischen Fans direkt anspricht (S. 42) - und alle anderen damit auch ein wenig ausschließt. An deutschen Bands werden nur Eloy, Hölderlin und Novalis namentlich erwähnt, Grobschnitt nicht einmal das.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum unter den Prog-Festivals nur Nearfest, Rosfest (die der Autor regelmäßig besucht), aber auch Baja Prog, Prog Resiste, Night Of The Prog sowie natürlich Summer's End und High Voltage vermerkt sind. Beispielsweise die ProgPower Festivals in UK, den Niederlanden und den USA fallen unter den Tisch - möglicherweise, weil sie auch härteren Prog-Stilistiken regelmäßig eine Bühne bieten.
Den Magenta-Fan beschäftigt nur Mainstream Prog wirklich. Rand-, Extrem- und Cross-Over-Zonen, in denen es ja öfters besonders spannend wird, betritt er kaum oder gar nicht. ProgMetal-Fans beispielsweise müssen sich mit knappen Erwähnungen von Queensryche, Fates Warning, Dream Theater und Threshold bescheiden. Arjen A. Lucassens Arbeit in den Niederlanden wird überwiegend aufgrund der internationelen Gaststars gerühmt. Mit "Metropolis Pt. 2" von Dream Theater hat es aber immerhin ein ProgMetal-Album in Lambes Empfehlungs-Kanon geschafft. So bekommen (als zufällige Beispiele) weder Cynic (!), Ulver noch Emperor auch nur eine Fußnote ab und - schlimmer - der für den Progressive Rock nicht ganz unwichtige Frank Zappa nicht viel mehr als zwei Fußnoten. "Randgenre" wie RIO, AvantDeath oder Djent sucht man natürlich auch vergebens. Das ist kein Beinbruch, aber dennoch auffällig, da andererseits etwa elektronische Musik (Tangerine Dream & Co., S. 51 ff.) sowie "ArtPop" (Thomas Dolby, Howard Jones u.v.m., S. 102 ff.) ausführlich vorgestellt werden.
Das Buch hätte noch etwas sorgfältiger lektoriert werden können. Neben diversen, überwiegend lässlichen Tippfehlern finden sich auch noch einige zumindest stark diskussionswürdige Behauptungen. Zum Beispiel die auf S. 96, Revolving Stages seien eine Innovation von Yes in den Jahren '79/'80 gewesen (aber vgl. >> Nick Mason auf S. 84 von "Inside Out" zu den Tücken von bereits in den Sechzigern durchaus üblichen Drehbühnen). Oder die, dass Platten-Cover seit der Erfindung der LP typischerweise ein Bild des Künstlers getragen hätten, was erst die Beatles geändert hätten (aber vgl. Stan Cornyns "Abenteuerliche Geschichte der Warner Music Group", für eine wirklich völlig andere Version). Auf S. 127 wird gemutmaßt, dass heute ein Cover wie das von "Animals" (Aufblas-Flugschwein über dem Battersea-Kraftwerk) mit Photoshop-Nachhilfe produziert worden wäre. Tatsächlich lernen wir ja aus Pink Floyd-Quellen, dass das Schwein zwar wirklich geflogen (und ausgebüxt!) ist, für das Covermotiv aber eine Montage verwendet werden musste. Insider mögen es auch schade finden, dass bei der kursorischen Behandlung der Bedeutung des deutschen Labels InsideOut zwar der bis heute übrig gebliebene Labelchef Thomas Waber, nicht aber Michael Schmitz' Rolle Erwähnung findet.
Auch was zentrale Szene-Medien (S. 183 ff.) angeht, hat Lambe seine Recherche nicht besonders weit getrieben: Auf den diesem Thema ("Darlings Of The Press At Last?") zugestandenen zwei Seiten geht es fast nur um UK-Publikationen wie das Classic Rock Mag. Beispielsweise iO Pages (Print, Niederlande), ProgWereld (Web, Niederlande), aber auch unser aller Progressive Newsletter (Print, Deutschland) glänzen durch Abwesenheit - ebenso wie 'zig andere, die man hätte nennen können und vielleicht auch sollen. Eine Linkliste kostet nicht allzu viel Aufwand und Platz, kann aber hohen Nutzwert für Leser haben.
Fazit:
Mit den genannten Einschränkungen durchaus lesenswert für Fans von Progmusik britischer Prägung.
Yes, "Close To The Edge" live, 2011 - Stellt dieses Album also den einsamen Höhepunkt der Prog-Kultur dar?
Autor Stephen Lambe ist Webmaster der u.a. für Sängerin Christina Booth bekannten Prog-Band Magenta.