Bei Steven Wilson ist alles anders. Er steigt mit der deutlich an die Siebziger angelehnten, so wunderbaren wie teils sperrigen Jazz-Progrock-Melange des aktuellen Albums "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" auf Platz 3 in die deutschen Top 100 Album Charts der KW 12 ein. Er verwandelt die Kölner Live Music Hall, die schon einiges gesehen hat, in ein quadrophonisch beschalltes Kabuki-Theater. Er lässt sie teilbestuhlen. Und er teilt mit hintergründigem Humor und letztlich doch feiner englischer Art sein Missfallen über ungeschickte Interviewer mit seiner Band und seinem hingebungsvollem Publikum. Besagte Band heizt den Zuhörern über zwei Stunden lang dermaßen ein, dass am Ende die meisten schwören werden, der Rabe habe doch gesungen.
Bei der Zusammenstellung der Live-Band, die auch das Rabenalbum aufgenommen hat, blieb Wilson für seine Verhältnisse allerdings erstaunlich wertkonservativ: Bis auf den neu hinzugekommenen Guthrie Govan (guit; u.a. Aristocrats) handelt es sich um die gleiche erlesene Mannschaft, die er schon mit auf die >> 2011erTournee genommen hatte: Nick Beggs (bss, stick); Marco Minnemann (drms); Adam Holzman (key) und Theo Travis (wood). Auch das Konzertintro mit einem speziell hierfür komponierten Geisterstunden-Ambient-Instrumental gab es wieder, allerdings, wie im >> Interview versprochen, nicht so mordslang wie im Vorjahr. Stattdessen wurde erwartungsgemäß mit dem knalligen "Luminol" gleich zu Beginn voll aufs Mett gehauen. Ebenso erwartbar bildete "Drive Home", gleichfalls von "The Raven", einen ersten Höhepunkt mit sterbensschönen, live noch variierten Soli von Meister Govan. Weitere Stationen des Rabenfluges: "The Pin Drop", das traurige "Postcard" (ein Ausflug in das Gebiet des "Grace For Drowning"-Albums), "The Holy Drinker", für den sich der wie meist barfüßig agierende Wilson einen Bass umschnallte und Holzman apokalyptische Van der Graaf Generator-Sounds an der Orgel erzeugte.
Apropos Weltuntergang: Erst jetzt wurde es annähernd so laut in der Halle, wie es zur "Grace"-Tour gewesen war, dafür wirkte der Sound aber ausgesprochen differenziert und durchsichtig. "Deform To Form A Star" war nicht nur wegen Travis' Querflötenparts ein melodischer Leckerbissen. Für "The Watchmaker" fällt wieder die Gaze vor die Bühne, die 2012 den gesamten ersten Konzertteil über als semitransparente Projektionsfläche gedient hatte. Projiziert wurde, zunächst nur untermalt von effektvoll die quadrophonische Beschallung ausnutzenden Uhrwerkgeräuschen, ein unheilvolles Video, in dem die alten, verwirrt dreinblickenden Augen des Uhrmachers eine zentrale Rolle spielten. Nichts für schwache Nerven. Erholung spendeten "Index" und "Insurgentes" (vom gleichnamigen ersten Soloalbum), "Harmony Korine", dann folgten die schroffen Breaks von "No Part Of Me".
"Normalerweise erzähle ich, wie es sich bei Tischkonservation ja auch gehört, an dieser Stelle immer etwas über Serienmörder", ließ der bestgelaunte Brite nun vernehmen. "Heute würde ich Euch lieber fragen, ob Ihr schon mal was von Saga gehört habt?" Er spricht den Namen der kanadischen Softprogger mit komischem Ekel und wie "Sauga" aus. Großes Gejohle im Publikum. Ein "Dennis" habe ihn nämlich vor der Show interviewt und dabei wissen lassen, dass "The Raven" deutliche Sauga-Einflüsse enthalte. Dass Wilson von dieser Formation noch nie gehört hat, muss ihn neugierig genug gemacht haben, um in der knappen Zeit vor der Show noch nachzuforschen. Was er fand, teilt er nun mit den teils stehenden, teils sitzenden Proggies, die aber sämtlich so an seinen Lippen hängen, dass man eine Nadel fallen hören könnte. Beste Chartsposition von Saga in Deutschland: 2. In Großbritannien: Über 6.000. Mit wohliger Konsequenz wird nun jedes Bandmitglied interviewt, ob es die Kanadier kennt oder gar eine Scheibe von ihnen besitzt. Marco M. versuchte sich daraufhin mehrfach an einem improvisierten Riddim, der von "Humble Stance" inspiriert sein mochte. Nick Beggs, für dessen Humor jede Frage eine Steilvorlage ist, erfand sogar schnell ein Konzeptalbum. Als der Interviewer-Fauxpas genügend gegeißelt war, ging es nun wirklich um Serienmord - und das 23-minütige "Raider II" tat sein düsteres Werk. Das mit einem nicht nur für Rabenvogelfreunde wie unsereinen ganz besonders ästhetischen Video unterlegte Titelstück beendete Schlag 22 Uhr den offiziellen Teil.
Von Standing Ovations lassen sich der Oberrabe und sein Schwarm noch einmal zurücklocken. "Normalerweise spielt man als Zugabe seine größten Hits", moderiert Wilson an. "Doch ich habe ja keine. Da andererseits aber die ersten drei Alben von Porcupine Tree letztlich auch Soloalben von mir waren, habe ich mich für ein Stück davon entschieden". So bekamen wir eine lange, relativ harte und mit teils von Effekten verzerrter Stimme gesungene Fassung von "Radioactive Toy" geboten - nicht aber leider das andernorts zusätzlich gespielte "Ljudet Innan" von der traumhaften Kooperation mit Opeths Mikael Åkerfeldt "Storm Corrosion". Das war aber auch schon der einzige Makel an einem ansonsten nahezu perfekten Konzertabend.
PS: Langjährige Wilson-Fans und -Kenner nehmen die ungewohnte stilistische und personelle Kontinuität des Barden erstaunt zur Kenntnis. Porcupine Tree scheint vorläufig abgemeldet, an Blackfield jedes Interesse verloren und das Konzept der letzten beiden Solowerke so perfektioniert, dass hier auch kaum noch etwas zu toppen sein dürfte. Eine solche Situation müsste den umtriebigen Wilson eigentlich langweilen. Pure Spekulation: Entweder ihm gelingt für kommendes Jahr eine deutliche nochmalige Steigerung der erprobten Formel bei Musik, Band, Produzent (beim "Raven" immerhin Alan Parsons!). Oder er wirft sich auf etwas völlig Neues. Den Death Metal zum Beispiel, den sein Partner Åkerfeldt gerade abzustreifen beginnt. Oder ein Jazz-Klavier-Trio...