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Gesehen! The Wrens / 31.03.2006, Münster, Gleis 22
Adrenalin auf Anschlag
Text / Live-Fotos: Simone Deckner
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New Jersey - das Ostfriesland Amerikas: Belächelt von den coolen New Yorker Nachbarn. Berühmt einzig
für einen Highway, den New Jersey Turnpike, den dEUS einst besangen. Beschrieben in Zach Braffs Film
"Garden State" als Melange in Moll: Leere Landschaften, leere Bushaltestellen, leere Gesichter -
einzig die Bars sind immer randvoll. Und dann das: Eine der atemberaubendsten Bands dieser Tage kommt nicht
aus England oder Kanada. Sie kommt ausgerechnet aus New Jersey. The Wrens spielten sich bei ihrem Gig in
Münster im Handumdrehen in die Herzen aller 250 Anwesenden.
Ein dicker, brauner Vorhang wird zur Seite gezerrt und legt den Blick frei auf vier Männer. Sie sind mit
Mitte-Ende 30 nicht mehr jung, sie sind nicht hip, sie sind konzentriert. Einer hängt gebückt über
dem E-Piano. South Park-Kenny aus Fleisch und Blut. Seine Finger bewegen sich im Zeitlupentempo, er wirkt abwesend,
die anderen ignorieren ihn scheinbar, auch Musik ist kaum zu hören. Sekunden später hört man
ein markerschütterndes Schreien: Kenny alias Kevin Whelan (zusätzlich zum Piano spielt er auch noch
Bass und ist einer von zwei Sängern der Wrens) hat seinen Anorak mit Fellkapuze in die Ecke gepfeffert, seine
mit braunem Klebeband zusammengehaltene Bassgitarre gegriffen und in die Höhe geschleudert und laut
"YEAAAAAHHHHHH!" ins Mikrofon gebrüllt. Die jungen Mädchen in der erste Reihe, die gerade
noch versonnen in seine Richtung geschaut haben, schreien auch, weil sie nicht wissen, wie ihnen geschieht, und
gehen gleichzeitig zwei Schritte zurück.
Die Wrens spielen, als ginge es um ihr Leben: Allen voran Kevin Whelan. Mit vollem Körpereinsatz schmeißt
er sich in die Songs, wie zum Beispiel beim großartigen "Faster Gun", ringt mit den Strophen, als
seien sie wilde Tiere, reckt am Ende die Arme in die Luft wie ein Boxer, der die nächste Runde für sich
entscheiden konnte. Das ist kein "schönes Konzert". Hier geht es um alles oder nichts. "It's
been eleven years since we played here. It's so great to be back", sagt er, und es hört sich an wie
eine Drohung. Elf Jahre, in denen, so scheint es jetzt, diese Energie unterdrückt wurde, weil die Wrens
Pech mit der Plattenfirma hatten. Weil sie keine Kompromisse wollten und man sie deshalb ausgebootet hat.
Weil sie anfingen, ein bürgerliches Leben als Angestellte zu führen - und ihnen die Chance, noch einmal
die Rocksäue herauszulassen, für immer verloren schien. Und auch die Bedingungen für den ersten
Deutschland-Auftritt der Indierocker hätten kaum schlechter sein können: Sänger und Gitarrist Charles
Bissell verpasste den Flieger, verlor eine Gitarre, hatte kein Zeit mehr, vor dem Gig etwas zu essen, und machte
doch mit seinem Auftritt alles wett. Als ruhiger Gegenpart zur aggressiven Energie von Smith. Der ärgert ihn
das ganze Konzert über, als seien beide 13, er bufft ihn von der Seite an, schmeißt ihm den Anorak
übers Gesicht, stellt sich ihm in den Weg.
The Wrens spielen sich wie im Rausch durch ihr aktuelles Album "The Meadowlands": Sie lassen die Fans auf
dem Bühnenboden trommeln. Sie bauen die Spannung auf bis zur Unerträglichkeit, halten sie noch einen
Moment an und noch einen, bevor sie mit Leidenschaft alles herauslassen. Drei Mal werden sie zur Zugabe herausgebrüllt
vom Publikum, das jetzt einen ähnlichen Adrenalinspiegel wie Whelan zu haben scheint. "She Sends Kisses"
kommt in kaum für möglich geglaubter Steigerung in einer 10-Minuten-Version. Am Merchandising-Stand stehen
sie danach mit glühenden Gesichtern und bedanken sich bei jedem persönlich per Handschlag fürs Kommen.
Maßstäbe gesetzt, Herzen gewonnen, Welt gerettet - wenn auch nur für einen Tag.