Ich Jetzt Täglich: eine Frage des Stils

Ich Jetzt Täglich: Stilfragen (Nullviernull/Alive)

„Bitte sag mir wo ich bin!“, flehen die beiden Hamburger Lutz Nikolaus Kratzer und Mark Matthes mitten in ihrer geistreichen Sound- und Wortcollage. Sirenenartige Orchesterklänge wechseln ab mit purem Minimalismus, zwei Hirnhälften bilden eine Ich-AG, und zusammenpassen will all das nach dem allerersten Hördurchgang schon mal gar nicht. Doch dann passiert das, was so gemeinhin verpönt und ins Land der Phrasen verbannt ist: diese Scheibe nämlich wächst!
Der Gesang gemahnt uns zuzuhören, erzählt uns von Welten da draußen und kann gegen die Effekte anstehen. Dass Kratzer eine bewegte Vergangenheit unter anderem in Indien hatte und Kollege Matthes genau genommen aus der Schweiz stammt, dass beide manische Tüftler zu sein scheinen und nicht zur Ruhe kommen, bis auch das letzte Teilchen sich irgendwie an das Gesamte hängt, ist Faktum. Was dabei an Instrumentarium so alles zum Vorschein kommt, dürfte selbst Musikstudenten zu verzweifelten Ratespielen zwingen. Der Rezensent fühlt sich mal an die formidablen Kante erinnert, mal an Jan Plewkas Musikerkarriere. Beides jedoch nur Momentaufnahmen. Als Psycho-Poesie bezeichnen sie es selbst während sie sich der Klaviatur der reinen Gefühle annehmen. Kleinste Banalitäten werden aufgegriffen und wortgewaltig zermalmt oder schlichtweg zum Tagesthema erhoben. Wer selber nur halbwegs offenen Auges durch diese Welt spaziert, dem dürften sich wahre Freudenfeuer entfachen. Sie sitzen auf dem heimischen Sofa und schauen durch die Wände hinaus, was dort passiert. Sie haben Zeit, sich darüber klar zu werden. Sie gehen quer durch einen Garten und befinden sich möglicherweise fortwährend mitten drin statt nur dabei. Die Record-Release Party findet am 12. Mai nicht wenig symbolträchtig in der Hamburger Weltbühne statt. Diese besitzt ein gewaltiges Fenster mit Blick auf die Dächerwelt. Die Gedanken sind frei.